Heidis Lehr- und Wanderjahre

Johanna Spyri

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  • Zum Alm-Ohi hinauf
  • Am Sonntag, wenn's lautet
  • Auf der Weide
  • Bei der Grosmutter
  • Beim Grosvater
  • Der Hausherr hort allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehort hat
  • Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
  • Eine Grosmama
  • Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
  • Fraulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
  • Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
  • Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
  • Im Hause Sesemann spukt's
  • Am Sommerabend die Alm hinan

  • Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland
    This Etext is in German.
    This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
    That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
    Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom “Gutenberg Projekt-DE"
    zur Verfugung gestellt.  Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
    http://gutenberg2000.de erreichbar.

    Zum Alm-Ohi hinauf

    Vom freundlichen Dorfe Maienfeld fuhrt ein Fusweg durch grune, baumreiche Fluren bis zum Fuse der Hohen, die von dieser Seite gros und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fusweg anfangt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kraftigen Bergkrautern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fusweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

    Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein groses, kraftig aussehendes Madchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand fuhrend, dessen Wangen so gluhend waren, dass sie selbst die sonnverbrannte, vollig braune Haut des Kindes flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der heisen Junisonne so verpackt, als hatte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Madchen mochte kaum funf Jahre zahlen; was aber seine naturliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider ubereinander angezogen und druberhin ein groses, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine vollig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nageln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heis und muhsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwarts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Hohe der Alm liegt und 'im Dorfli' heist. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haustur und einmal vom Wege her, denn das Madchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Gruse und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Hauschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tur: “Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.”

    Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

    “Bist du mude, Heidi?”, fragte die Begleiterin.

    “Nein, es ist mir heis", entgegnete das Kind.

    “Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und grose Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben", ermunterte die Gefahrtin.

    Jetzt trat eine breite gutmutig aussehende Frau aus der Tur und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gesprach gerieten uber allerlei Bewohner des 'Dorfli' und vieler umherliegender Behausungen.

    “Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?”, fragte jetzt die neu Hinzugekommene. “Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.”

    “Das ist es", erwiderte Dete, “ich will mit ihm hinauf zum Ohi, es muss dort bleiben.”

    “Was, beim Alm-Ohi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!”

    “Das kann er nicht, er ist der Grosvater, er muss etwas tun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grosvater das Seinige tun.”

    “Ja, wenn der ware wie andere Leute, dann schon", bestatigte die kleine Barbel eifrig; “aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das halt's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?”

    “Nach Frankfurt", erklarte Dete, “da bekomm ich einen extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein.”

    “Ich mochte nicht das Kind sein!”, rief die Barbel mit abwehrender Gebarde aus. “Es weis ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fus in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor ihm furchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.”

    “Und wenn auch", sagte Dete trotzig, “er ist der Grosvater und muss fur das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich.”

    “Ich mochte nur wissen", sagte die Barbel forschend, “was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lasst. Man sagt allerhand von ihm; du weist doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?”

    “Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's horte, so kame ich schon an!”

    Aber die Barbel hatte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem Alm-Ohi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm redeten, als furchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht fur ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dorfli der Alm-Ohi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den samtlichen Bewohnern sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Ohi, was die Aussprache der Gegend fur Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dorfli hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prattigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Personlichkeiten aller Zeiten vom Dorfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dorfli geburtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinubergezogen, wo sie im grosen Hotel als Zimmermadchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren konnen, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. —Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: “Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute daruber hinaus sagen; du weist, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefurchtet und ein solcher Menschenhasser war.”

    “Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht prazis wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wusste, dass es nachher nicht im ganzen Prattigau herumkame, so konnte ich dir schon allerhand erzahlen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch.”

    “A bah, Dete, was meinst denn?”, gab die Barbel ein wenig beleidigt zuruck; “es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prattigau, und dann kann ich schon etwas fur mich behalten, wenn es sein muss. Erzahl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen.”

    “Ja nu, so will ich, aber halt Wort!”, mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhore, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich uberall um. Der Fusweg machte einige Krummungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dorfli hinunter ubersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.

    “Jetzt seh ich's", erklarte die Barbel; “siehst du dort?”, und sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. “Es klettert die Abhange hinauf mit dem Geisenpeter und seinen Geisen. Warum der heut so spat hinauffahrt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzahlen.”

    “Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen", bemerkte die Dete; “es ist nicht dumm fur seine funf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geisen und die Almhutte.”

    “Hat er denn einmal mehr gehabt?”, fragte die Barbel.

    “Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat", entgegnete eifrig die Dete; “eins der schonsten Bauernguter im Domleschg hat er gehabt. Er war der altere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Altere wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit bosem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weis kein Mensch wohin, und der Ohi selber, als er nichts mehr hatte als einen bosen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das Militar gegangen nach Neapel, und dann horte man nichts mehr von ihm zwolf oder funfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle Turen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze er keinen Fus mehr, und dann kam er hierher ins Dorfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Bundnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste noch etwas Geld haben, denn er lies den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dorfli. Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es ware ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, naturlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Grosmutter mit seiner Grosmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Ohi, und da wir fast mit allen Leuten im Dorfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Ohi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hies er eben nur noch der 'Alm-Ohi'.”

    “Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?”, fragte gespannt die Barbel.

    “Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erklarte Dete. “Also der Tobias war in der Lehre drausen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Dorfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kraftig und hatte manchmal so eigene Zustande gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Ohi verdient habe fur sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buse tun, aber er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hies es, der Ohi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pfafferserdorf in die Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nahen und flicken verstehe, und fruh im Fruhling kam die Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will; ubermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen.”

    “Und dem Alten da droben willst du nun das Kind ubergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel vorwurfsvoll.

    “Was meinst du denn?”, gab Dete zuruck. “Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst funf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?”

    “Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel; “ich habe mit der Geisenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb wohl, Dete, mit Gluck!”

    Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, wahrend diese der kleinen, dunkelbraunen Almhutte zuging, die einige Schritte seitwarts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschutzt war. Die Hutte stand auf der halben Hohe der Alm, vom Dorfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufallig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefahrliches Darinwohnen sein musste, wenn der Fohnwind so machtig uber die Berge strich, dass alles an der Hutte klapperte, Turen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hatte die Hutte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie ware unverzuglich ins Tal hinabgeweht worden.

    Hier wohnte der Geisenpeter, der elfjahrige Bube, der jeden Morgen unten im Dorfli die Geisen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kraftigen Krauter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfusigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dorfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geis auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Madchen, denn die friedlichen Geisen waren nicht zu furchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geisen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Grosmutter; aber da er immer am Morgen sehr fruh fortmusste und am Abend vom Dorfli spat heimkam, weil er sich da noch so lange als moglich mit den Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geisenpeter genannt worden war, weil er in fruheren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfallen verungluckt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hies, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geisenpeterin genannt, und die blinde Grosmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Grosmutter.

    Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geisen noch nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig hoher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter ubersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen groser Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen ruckten die Kinder auf einem grosen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Strauchern und Gebuschen fur seine Geisen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind muhsam nachgeklettert, in seiner schweren Rustung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Krafte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Fusen und leichten Hoschen ohne alle Muhe hin und her sprang, bald auf die Geisen, die mit den dunnen, schlanken Beinchen noch leichter uber Busch und Stein und steile Abhange hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden nieder, zog mit groser Schnelligkeit Schuhe und Strumpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Rockchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhakeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen uber das Alltagszeug angezogen, um der Kurze willen, damit niemand es tragen musse. Blitzschnell war auch das Alltagsrocklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterrockchen, die blosen Arme aus den kurzen Hemdarmelchen vergnuglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schon alles auf ein Haufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geisen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es zuruckgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zuruck, und wie er unten das Hauflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fuhlte, fing es ein Gesprach mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geisen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geisen oben bei der Hutte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: “Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg und dir neue Strumpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?”

    Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: “Dort!” Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.

    “Du Ungluckstropf!”, rief die Base in groser Aufregung. “Was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?”

    “Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus uber seine Tat.

    “Ach du ungluckseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?”, jammerte und schalt die Base weiter. “Wer sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zuruck und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als warst du am Boden festgenagelt.”

    “Ich bin schon zu spat", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu ruhren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hande in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehort hatte.

    “Du stehst ja doch nur und reisest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art!”, rief ihm die Base Dete zu. “Komm her, du musst etwas Schones haben, siehst du?” Sie hielt ihm ein neues Funferchen hin, das glanzte ihm in die Augen. Plotzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Satzen in kurzer Zeit bei dem Hauflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base ruhmen musste und ihm sogleich sein Funfrappenstuck uberreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glanzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

    “Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Ohi hinauf, du gehst ja auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hutte des Geisenpeter emporragte. Willig ubernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fuse nach, den linken Arm um sein Bundel geschlungen, in der Rechten die Geisenrute schwingend. Das Heidi und die Geisen hupften und sprangen frohlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhohe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hutte des alten Ohi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zuganglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hutte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Asten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch uber schone, krauterreiche Hohen, dann in steiniges Gestrupp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan.

    An die Hutte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Ohi eine Bank gezimmert. Hier sas er, eine Pfeife im Mund, beide Hande auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geisen und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den anderen uberholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: “Guten Abend, Grosvater!”

    “So, so, wie ist das gemeint?”, fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zuruck, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Grosvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gestrauch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille stand und zusah, was sich da ereigne.

    “Ich wunsche Euch guten Tag, Ohi", sagte die Dete hinzutretend, “und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jahrig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.”

    “So, was muss das Kind bei mir?”, fragte der Alte kurz; “und du dort", rief er dem Peter zu, “du kannst gehen mit deinen Geisen, du bist nicht zu fruh; nimm meine mit!”

    Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Ohi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.

    “Es muss eben bei Euch bleiben, Ohi", gab die Dete auf seine Frage zuruck. “Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun.”

    “So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. “Und wenn nun das Kind anfangt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernunftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?”

    “Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zuruck, “ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Handen lag, ein einziges Jahrchen alt, und ich schon fur mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nachste am Kind; wenn Ihr's nicht haben konnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht notig haben, noch etwas aufzuladen.”

    Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Ohi aufgestanden; er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zuruckwich; dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: “Mach, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!” Das lies sich die Dete nicht zweimal sagen. “So lebt wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dorfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwarts wie eine wirksame Dampfkraft. Im Dorfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehorte und alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Turen und Fenstern tonte: “Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?”, rief sie immer unwilliger zuruck: “Droben beim Alm-Ohi! Nun, beim Alm-Ohi, ihr hort's ja!”

    Sie wurde aber so masleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: “Wie kannst du so etwas tun!”, und: “Das arme Tropfli!”, und: “So ein kleines Hilfloses da droben lassen!”, und dann wieder und wieder: “Das arme Tropfli!” Die Dete lief, so schnell sie konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr horte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch ubergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie konne dann ja eher wieder etwas fur das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg-und zu einem schonen Verdienst kommen konnte.

    Am Sonntag, wenn's lautet

    Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Grosvater, der mitgehen und den Koffer vom Dorfli heraufholen wollte, wahrend es bei der Grosmutter ware. Das Kind konnte es fast nicht erwarten, die Grosmutter wieder zu sehen und zu horen, wie ihr die Brotchen geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Tone von dem Tannenrauschen uber ihm und das Duften und Leuchten der grunen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.

    Jetzt trat der Grosvater aus der Hutte, schaute noch einmal rings um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: “So, nun konnen wir gehen.”

    Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Ohi alles sauber und in Ordnung in der Hutte, im Stall und ringsherum, das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu konnen, und so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der Geisenpeter-Hutte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die Grosmutter seinen Schritt gehort und rief ihm liebevoll entgegen: “Kommst du, Kind? Kommst du wieder?”

    Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch furchtete sie, das Kind konnte ihr wieder entrissen werden. Und nun musste die Grosmutter erzahlen, wie die Brotchen geschmeckt hatten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie meine, sie sei heute viel kraftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter fugte hinzu, die Grosmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brotchen essen wollen, gestern und heut zusammen, und sie kame gewiss noch ziemlich zu Kraften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte. Heidi horte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. “Ich weis schon, was ich mache, Grosmutter", sagte es in freudigem Eifer; “ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brotchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen grosen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon.”

    “Ach Gott", sagte die Brigitte, “das ist eine gute Meinung; aber denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen ubrigen Batzen hatte, der Backer unten im Dorfli macht auch solche, aber ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen.”

    Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl uber Heidis Gesicht: “Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Grosmutter", rief es jubelnd aus und hupfte vor Freuden in die Hohe, “jetzt weis ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brotchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dorfli.”

    “Nein, nein, Kind!”, wehrte die Grosmutter; “das kann nicht sein, das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Grosvater geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst.”

    Aber Heidi lies sich nicht storen in seiner Freude, es jauchzte und hupfte in der Stube herum und rief ein Mal ubers andere: “Jetzt kann die Grosmutter jeden Tag ein Brotchen essen und wird wieder ganz kraftig, und—oh, Grosmutter", rief es mit neuem Jubel, “wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist.”

    Die Grosmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht truben. Bei seinem Herumhupfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Grosmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: “Grosmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?”

    “O ja", bat die Grosmutter freudig uberrascht; “kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?”

    Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberuhrt gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf seinen Schemel zur Grosmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.

    “Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung sas die Grosmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.

    Heidi blatterte und las leise hier und da eine Linie: “jetzt kommt etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Grosmutter.” Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger und immer warmer, wahrend es las: “Die guldne Sonne Voll Freud und Wonne Bringt unsern Grenzen Mit ihrem Glanzen Ein herzerquickendes, liebliches Licht.

    Mein Haupt und Glieder Die lagen darnieder; Aber nun steh ich, Bin munter und frohlich, Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

    Mein Auge schauet, Was Gott gebauet Zu seinen Ehren, Und uns zu lehren, Wie sein Vermogen sei machtig und gros.

    Und wo die Frommen Dann sollen hinkommen, Wenn sie mit Frieden Von hinnen geschieden Aus dieser Erde verganglichem Schos.

    Alles vergehet, Gott aber stehet Ohn alles Wanken, Seine Gedanken, Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.

    Sein Heil und Gnaden Die nehmen nicht Schaden, Heilen im Herzen, Die todlichen Schmerzen, Halten uns zeitlich und ewig gesund.

    Kreuz und Elende— Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwunschtes Gesicht.

    Freude die Fulle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten, Dahin sind meine Gedanken gericht'.”

    Die Grosmutter sas still da mit gefalteten Handen, und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tranen die Wangen herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: “Oh, noch einmal, Heidi, lass es mich noch einmal horen:

    'Kreuz und Elende Das nimmt ein Ende'—”

    Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen:

    “Kreuz und Elende— Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwunschtes Gesicht.

    Freude die Fulle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten, Dahin sind meine Gedanken gericht'.”

    “O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!”

    Ein Mal ums andere sagte die Grosmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor Gluck und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Grosmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte trubselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als sahe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schonen himmlischen Garten hinein.

    Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Grosvater drausen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die Grosmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zuruck; denn dass es der Grosmutter wieder hell machen konnte und sie wieder frohlich wurde, das war nun fur Heidi das allergroste Gluck, das es kannte, noch viel groser, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Geisen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tur nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Grosvater kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnackig zuruck, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfullt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem Grosvater alles erzahlen musste, was ihm das Herz erfreute, dass man die weisen Brotchen auch unten im Dorfli fur die Grosmutter holen konne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Grosmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es wieder zum Ersten zuruck und sagte ganz zuversichtlich: “Gelt, Grosvater, wenn die Grosmuttter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein Stuck geben kann zu einem Brotchen und am Sonntag zwei?”

    “Aber das Bett, Heidi?”, sagte der Grosvater; “ein rechtes Bett fur dich ware gut, und nachher bleibt schon noch fur manches Brotchen.”

    Aber Heidi lies dem Grosvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablassig, dass der Grosvater zuletzt sagte: “Das Geld ist dein, mach, was dich freut; du kannst der Grosmutter manches Jahr lang Brot holen dafur.”

    Heidi jauchzte auf: “O juhe! Nun muss die Grosmutter gar nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und, o Grosvater! Nun ist doch alles so schon wie noch gar nie, seit wir leben!”, und Heidi hupfte hoch auf an der Hand des Grosvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die frohlichen Vogel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft und sagte: “Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hatte, was ich so stark erbetete, dann ware doch alles nicht so geworden, ich ware nur gleich wieder heimgekommen und hatte der Grosmutter nur wenige Brotchen gebracht und hatte ihr nicht lesen konnen, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schoner, als ich es wusste; die Grosmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Grosmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Grosvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst.”

    “Und wenn's einer doch tate?”, murmelte der Grosvater.

    “Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch und lasst ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun lasst ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen konnte.”

    “Das ist wahr, Heidi, woher weist du das?”

    “Von der Grosmama, sie hat mir alles erklart.”

    Der Grosvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: “Und wenn's einmal so ist, dann ist es so; zuruck kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen.”

    “O nein, Grosvater, zuruck kann einer, das weis ich auch von der Grosmama, und dann geht es so wie in der schonen Geschichte in meinem Buch, aber die weist du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schon die Geschichte ist.”

    Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des Grosvaters Hand loslies und in die Hutte hineinrannte. Der Grosvater nahm den Korb von seinem Rucken, in den er die Halfte der Sachen aus dem Koffer hineingestosen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen ware ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein groses Buch unter dem Arm: “Oh, das ist recht, Grosvater, dass du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit groser Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo drausen auf des Vaters Feldern die schonen Kuhe und Schaflein weideten und er in einem schonen Mantelchen, auf seinen Hirtenstab gestutzt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. “Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut fur sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schone Tiere, wie auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er huten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern, welche die Schweinchen asen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: ' Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heisen, aber lass mich nur dein Tagelohner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam herausgelaufen—was meinst du jetzt, Grosvater?”, unterbrach sich Heidi in seinem Vorlesen; “jetzt meinst du, der Vater sei noch bose und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt hor nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihm um den Hals und kusste ihn, und der Sohn sprach zu ihm: 'Vater, ich habe gesundigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heisen.' Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Fuse, und bringt das gemastete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und frohlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an, frohlich zu sein.”

    “Ist denn das nicht eine schone Geschichte, Grosvater?”, fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasas und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern.

    “Doch, Heidi, die Geschichte ist schon", sagte der Grosvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Grosvater hin und sagte: “Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehort als sein Sohn.

    Ein paar Stunden spater, als Heidi langst im tiefen Schlafe lag, stieg der Grosvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lampchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Handen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Grosvater reden musste, denn lange, lange stand er da und ruhrte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hande, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: “Vater, ich habe gesundigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heisen!” Und ein paar grose Tranen rollten dem Alten die Wangen herab.—

    Wenige Stunden nachher in der ersten Fruhe des Tages stand der Alm-Ohi vor seiner Hutte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete uber Berg und Tal. Einzelne Fruhglocken tonten aus den Talern herauf, und oben in den Tannen sangen die Vogel ihre Morgenlieder.

    Jetzt trat der Grosvater in die Hutte zuruck. “Komm, Heidi!”, rief er auf den Boden hinauf. “Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Rocklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!”

    Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Grosvater, dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Rockchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Grosvater stehen und schaute ihn an. “O Grosvater, so hab ich dich nie gesehen", brach es endlich aus, “und den Rock mit den silbernen Knopfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so schon in deinem schonen Sonntagsrock.”

    Der Alte blickte vergnuglich lachelnd auf das Kind und sagte: “Und du in dem deinen; jetzt komm!” Er nahm Heidis Hand in die seine, und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten tonten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzucken und sagte: “Horst du's, Grosvater? Es ist wie ein groses, groses Fest.”

    Unten im Dorfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu singen an, als der Grosvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen sties der zunachst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte: “Hast du das gesehen? Der Alm-Ohi ist in der Kirche!”

    Und der Angestosene sties den Zweiten an und so fort, und in kurzester Zeit flusterte es an allen Ecken: “Der Alm-Ohi! Der Alm-Ohi!”, und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass der Vorsanger die groste Muhe hatte, den Gesang schon aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz voruber, denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhorer davon ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine grose Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Ohi mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon drausen standen, schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in groser Aufregung das Unerhorte, dass der Alm-Ohi in der Kirche erschienen war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustur, wie der Ohi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei. Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: “Es wird wohl mit dem Alm-Ohi nicht so bos sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand halt.” Und der andere sagte: “Das hab ich ja immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er so bodenschlecht ware, sonst musste er sich ja furchten; man ubertreibt auch viel.” Und der Backer sagte: “Hab ich das nicht zuallererst gesagt? Seit wann lauft denn ein kleines Kind, das zu essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus alledem weg und heim zu einem Grosvater, wenn der bos und wild ist und es sich zu furchten hat vor ihm?” Und es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Ohi auf und nahm uberhand, denn jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so manches von der Geisenpeterin und der Grosmutter gehort, das den Alm-Ohi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.

    Der Alm-Ohi war unterdessen an die Tur der Studierstube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht uberrascht, wie er wohl hatte sein konnen, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er ergriff die Hand des Alten und schuttelte sie wiederholt mit der grosten Herzlichkeit, und der Alm-Ohi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte: “Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte vergessen mochte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dorfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist nichts fur das Kind dort oben, es ist zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun.”

    Die freundlichen Augen des Pfarrers glanzten vor Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und druckte sie in der seinen und sagte mit Ruhrung: “Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstundchen frohlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir lieb und wert, und fur das Kleine wollen wir auch gute Freunde finden.” Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und fuhrte es hinaus, indem er den Grosvater fortbegleitete, und erst drausen vor der Haustur nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Ohi die Hand immer noch einmal schuttelte, gerade als ware das sein bester Freund, von dem er sich fast nicht trennen konnte. Kaum hatte dann auch die Tur sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drangte die ganze Versammlung dem Alm-Ohi entgegen, und jeder wollte der Erste sein, und so viele Hande wurden miteinander dem Herankommenden entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst ergreifen, und einer rief ihm zu: “Das freut mich! Das freut mich, Ohi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!”, und ein anderer: “Ich hatte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch geredet, Ohi!” Und so tonte und drangte es von allen Seiten, und wie nun der Ohi auf alle die freundlichen Begrusungen erwiderte, er gedenke, sein altes Quartier im Dorfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen rechten Larm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Ohi die beliebteste Personlichkeit im ganzen Dorfli ware, die jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden Grosvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Ohi bald einmal bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab zuruckkehrten, blieb der Alte stehen und schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: “Grosvater, heut wirst du immer schoner, so warst du noch gar nie.”

    “Meinst du?”, lachelte der Grosvater. “Ja, und siehst du, Heidi, mir geht's auch heut uber Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte.”

    Bei der Geisenpeter-Hutte angekommen, machte der Grosvater gleich die Tur auf und trat ein. “Grus Gott, Grosmutter", rief er hinein; “ich denke, wir mussen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der Herbstwind kommt.”

    “Du mein Gott, das ist der Ohi!”, rief die Grosmutter voll freudiger Uberraschung aus. “Dass ich das noch erlebe! Dass ich Euch noch einmal danken kann fur alles, das Ihr fur uns getan habt, Ohi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!”

    Und mit zitternder Freude streckte die alte Grosmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schuttelte, fuhr sie fort, indem sie die seinige fest hielt: “Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem Herzen, Ohi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir das Kind ist!”, und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie geschmiegt.

    “Keine Sorge, Grosmutter", beruhigte der Ohi; “damit will ich weder Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so.”

    Jetzt zog die Brigitte den Ohi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schone Federnhutchen und erzahlte ihm, wie es sich damit verhalte, und dass sie ja naturlich so etwas einem Kinde nicht abnehme.

    Aber der Grosvater sah ganz wohlgefallig auf sein Heidi hin und sagte: “Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn nur.”

    Die Brigitte war hochlich erfreut uber das unerwartete Urteil. “Er ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!”, und in ihrer Freude streckte sie das Hutchen hoch auf. “Was aber auch dieses Heidi fur einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal denken mussen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Ohi?”

    Dem Ohi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es konnte dem Peterli nichts schaden; aber er wurde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.

    Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tur herein, nachdem er zuerst mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dorfli ubergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anstos vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie erzahlte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so aushalten konne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt habe, und die Grosmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch das Heidi und den Grosvater besuchen auf der Alm. Und weiter lies die Grosmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der alten Grosmutter die Brotchen habe mitbringen wollen, und damit sie diese nicht trocken essen musse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme, so musse das Heidi sie auch zur Grosmutter fuhren.

    Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung uber diese Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die grose Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Grosvater nicht bemerkte, wie spat es schon war, und so vergnugt und frohlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude uber das Zusammensein an dem heutigen, dass die Grosmutter zuletzt sagte: “Das Schonste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein trostliches Gefuhl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Ohi, und das Kind morgen schon?”

    Das wurde der Grosmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Grosvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Gelaut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhutte, die ganz sonntaglich im Abendschimmer ihnen entgegenglanzte.

    Wenn aber die Grosmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch manche neue Freude und Uberraschung fur das Heidi wie fur die Grosmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Grosmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die erwunschte Ordnung und Richtigkeit, nach ausen wie nach innen.

    Auf der Weide

    Heidi erwachte am fruhen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun horte es drausen des Grosvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Grosvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr horte und meistens fror, so dass sie immer am Kuchenfenster oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen mussen oder doch ganz in der Nahe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht horen konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es ware lieber hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute wieder alles sehen konnte, vor allem das Schwanli und das Barli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hutte hinaus. Da stand schon der Geisenpeter mit seiner Schar, und der Grosvater brachte eben Schwanli und Barli aus dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geisen guten Tag zu sagen.

    “Willst mit auf die Weide?”, fragte der Grosvater. Das war dem Heidi eben recht, es hupfte hoch auf vor Freude.

    “Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schon glanzt da droben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist's fur dich gerichtet.” Der Grosvater zeigte auf einen grosen Zuber voll Wasser, der vor der Tur in der Sonne stand. Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glanzend war. Unterdessen ging der Grosvater in die Hutte hinein und rief dem Peter zu: “Komm hierher, Geisengeneral, und bring deinen Habersack mit.” Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Sacklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.

    “Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein groses Stuck Brot und ein ebenso groses Stuck Kase hinein. Der Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur moglich, denn die beiden Stucke waren wohl doppelt so gros wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl drinnen hatte.

    “So, nun kommt noch das Schusselchen hinein", fuhr der Ohi fort, “denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geis weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schusselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib Acht, dass es nicht uber die Felsen hinunterfallt, horst du?”—

    Nun kam Heidi hereingelaufen. “Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Grosvater?”, fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Grosvater neben dem Wasserzuber aufgehangt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem Grosvater stand. Er lachte ein wenig.

    “Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestatigte er. “Aber weist was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geisen, da bekommt man schwarze Fuse. Jetzt konnt ihr ausziehen.”

    Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wolkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grune Alp, und alle die blauen und gelben Blumchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr frohlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Truppchen feiner, roter Himmelsschlusselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schonen Enzianen, und uberall lachten und nickten die zartblatterigen, goldenen Cystusroschen in der Sonne. Vor Entzucken uber all die flimmernden winkenden Blumchen vergas Heidi sogar die Geisen und auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und uberall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen und packte sie in sein Schurzchen ein, denn es wollte sie alle mit heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort werde wie hier drausen. —So hatte der Peter heut nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut bewaltigen konnte, denn die Geisen machten es wie das Heidi: Sie liefen auch dahin und dorthin, und er musste uberallhin pfeifen und rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen zusammenzutreiben.

    “Wo bist du schon wieder, Heidi?”, rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme.

    “Da", tonte es von irgendwoher zuruck. Sehen konnte Peter niemand, denn Heidi sas am Boden hinter einem Hugelchen, das dicht mit duftenden Prunellen besat war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfullt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zugen ein.

    “Komm nach!”, rief der Peter wieder. “Du musst nicht uber die Felsen hinunterfallen, der Ohi hat's verboten.”

    “Wo sind die Felsen?”, fragte Heidi zuruck, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der suse Duft stromte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.

    “Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am hochsten sitzt der alte Raubvogel und krachzt.”

    Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Hohe und rannte mit seiner Schurze voller Blumen dem Peter zu.

    “Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen weiterkletterten; “sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, hat's morgen keine mehr.” Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schurze schon so angefullt, dass da wenig Platz mehr gewesen ware, und morgen mussten auch noch da sein. So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geisen gingen nun alle geregelter, denn sie rochen die guten Krauter von dem hohen Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewohnlich Halt machte mit seinen Geisen und sein Quartier fur den Tag aufschlug, lag am Fuse der hohen Felsen, die, erst noch von Gebusch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich Felsenklufte weit hinunter und der Grosvater hatte Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Hohe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfaltig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stosen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.

    Heidi hatte unterdessen sein Schurzchen losgemacht und schon fest zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein groses, weites Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Blaue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind sas mauschenstill da und schaute ringsum, und weit umher war eine grose, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind uber die zarten, blauen Glockenblumchen und die goldnen, strahlenden Cystusroschen, die uberall herumstanden auf ihren dunnen Stangelchen und leise und frohlich hin und her nickten. Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geisen kletterten oben an den Buschen umher. Dem Heidi war es so schon zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lufte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstocken druben aufgeschaut, dass es nun war, als hatten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.

    Jetzt horte Heidi uber sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krachzen ertonen, und wie es aufschaute, kreiste uber ihm ein so groser Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in grosen Bogen kehrte er immer wieder zuruck und krachzte laut und durchdringend uber Heidis Kopf.

    “Peter! Peter! Erwache!”, rief Heidi laut. “Sich, der Raubvogel ist da, sieh! Sieh!”

    Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun hoher und hoher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich uber grauen Felsen verschwand.

    “Wo ist er jetzt hin?”, fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.

    “Heim ins Nest", war Peters Antwort.

    “Ist er dort oben daheim? Oh, wie schon so hoch oben! Warum schreit er so?”, fragte Heidi weiter.

    “Weil er muss", erklarte Peter.

    “Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist", schlug Heidi vor.

    “Oh! oh! oh!”, brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstarkter Missbilligung hervorstosend; “wenn keine Geis mehr dorthin kann und der Ohi gesagt hat, du durfest nicht uber die Felsen hinunterfallen.”

    Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte; aber die Geisen mussten die Tone verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grunen Halde versammelt, die einen fortnagend an den wurzigen Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig gegeneinander stosend mit ihren Hornern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geisen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnuglicher Anblick, wie die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz personliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Erscheinung fur sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stucke, die drin waren, schon auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die grosen Stucke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schusselchen und melkte schone, frische Milch hinein vom Schwanli und stellte das Schusselchen mitten ins Viereck. Dann rief er Heidi herbei, musste aber langer rufen als nach den Geisen, denn das Kind war so in Eifer und Freude uber die mannigfaltigen Sprunge und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah und nichts horte auser diesen. Aber Peter wusste sich verstandlich zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdrohnte, und nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, dass es um sie herumhupfte vor Wohlgefallen.

    “Hor auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, “jetzt sitz und fang an.”

    Heidi setzte sich hin. “Ist die Milch mein?”, fragte es, nochmals das schone Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.

    “Ja", erwiderte Peter, “und die zwei grosen Stucke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schusselchen vom Schwanli und dann komm ich.”

    “Und von wem bekommst du die Milch?”, wollte Heidi wissen.

    “Von meiner Geis, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an", mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es sein leeres Schusselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stuck von seinem Brot ab, und das ganze ubrige Stuck, das immer noch groser war, als Peters eigenes Stuck gewesen, das nun schon samt Zubehor fast zu Ende war, reichte es diesem hinuber mit dem ganzen grosen Brocken Kase und sagte: “Das kannst du haben, ich habe nun genug.”

    Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch nie in seinem Leben hatte er so sagen und etwas weggeben konnen. Er zogerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stucke hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk, nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geisbub. Heidi schaute derweilen nach den Geisen aus. “Wie heisen sie alle, Peter?”, fragte es.

    Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstos eine nach der anderen, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi horte mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es wahrte gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der grose Turk mit den starken Hornern, der wollte mit diesen immer gegen alle anderen stosen, und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behande Geischen, wich ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal hintereinander so rasch und tuchtig gegen ihn an, dass der grose Turk ofters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe Hornchen. Da war das kleine, weise Schneehoppli, das immer so eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es trostend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um den Hals des Geisleins und fragte ganz teilnehmend: “Was hast du, Schneehoppli? Warum rufst du so um Hilfe?” Das Geislein schmiegte sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still. Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beisen und zu schlucken: “Es tut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm.”

    “Wer ist die Alte?”, fragte Heidi zuruck.

    “Pah, seine Mutter", war die Antwort.

    “Wo ist die Grosmutter?”, rief Heidi wieder.

    “Hat keine.”

    “Und der Grosvater?”

    “Hat keinen.”

    “Du armes Schneehoppli du", sagte Heidi und druckte das Tierlein zartlich an sich. “Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen.”

    Das Schneehoppli rieb ganz vergnugt seinen Kopf an Heidis Schulter und meckerte nicht mehr klaglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.

    Weitaus die zwei schonsten und saubersten Geisen der ganzen Schar waren Schwanli und Barli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Turk abweisend und verachtlich begegneten.—

    Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Buschen hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen leichtfertig uber alles weg hupfend, die anderen bedachtlich die guten Krautlein suchend unterwegs, der Turk hier und da seine Angriffe probierend. Schwanli und Barli kletterten hubsch und leicht hinan und fanden oben sogleich die schonsten Busche, stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab. Heidi stand mit den Handen auf dem Rucken und schaute dem allen mit der grosten Aufmerksamkeit zu.

    “Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden, “die schonsten von allen sind das Schwanli und das Barli.”

    “Weis schon", war die Antwort. “Der Alm-Ohi putzt und wascht sie und gibt ihnen Salz und hat den schonsten Stall.”

    Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in grosen Sprungen den Geisen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas begegnet sein, es konnte da nicht zuruckbleiben. Der Peter sprang durch den Geisenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geislein, wenn es dorthin ging, leicht hinuntersturzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehupft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geislein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben packen, da sturzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Uberraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines frohlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwarts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Krauter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begutigend:

    “Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernunftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh.”

    Das Geislein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnuglich die Krauter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Fuse gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an welcher sein Glockchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so fuhrten die beiden den Ausreiser zu der friedlich weidenden Herde zuruck. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe tuchtig durchprugeln, und der Distelfink wich scheu zuruck, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: “Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich furchtet!”

    “Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrustet: “Du darfst ihm nichts tun, es tut ihm weh, lass ihn los!”

    Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkurlich seine Rute niederhielt. “So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Kase gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschadigung wollte er haben fur den Schrecken.

    “Allen kannst du haben, das ganze Stuck morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, “und Brot gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehoppli nie und gar keine Geis.”

    “Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als eine Zusage. Jetzt lies er den Schuldigen los, und der frohliche Distelfink sprang in hohen Sprungen auf und davon in die Herde hinein.—

    So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit druben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi sas wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglockchen und die Cystusroschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: “Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der grose Schnee druben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh! Der hohe Felsenberg ist ganz gluhend! Oh, der schone, feurige Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!”

    “Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemutlich und schalte an seiner Rute fort, “aber es ist kein Feuer.”

    “Was ist es denn?”, rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es uberallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schon war's auf allen Seiten. “Was ist es, Peter, was ist es?”, rief Heidi wieder.

    “Es kommt von selbst so", erklarte Peter.

    “O sieh, sieh", rief Heidi in groser Aufregung, “auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heisen sie, Peter?”

    “Berge heisen nicht", erwiderte dieser.

    “O wie schon, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist alles ausgeloscht! Nun ist alles aus, Peter!” Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstort aus, als ginge wirklich alles zu Ende.

    “Es ist morgen wieder so", erklarte Peter. “Steh auf, nun mussen wir heim.”

    Die Geisen wurden herbeigepfiffen und—gerufen und die Heimfahrt angetreten.

    “Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?”, fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.

    “Meistens", gab dieser zur Antwort.

    “Aber gewiss morgen wieder?”, wollte es noch wissen.

    “Ja, ja, morgen schon!”, versicherte Peter.

    Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrucke in sich aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhutte ankam und den Grosvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und am Abend seine Geisen erwartete, die von dieser Seite herunterkamen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwanli und Barli hinter ihm drein, denn die Geisen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: “Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!” Denn es war ihm sehr daran gelegen, dass das Heidi wiederkomme.

    Da rannte das Heidi schnell wieder zuruck und gab dem Peter die Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal das Schneehoppli um den Hals und sagte vertraulich: “Schlaf wohl, Schneehoppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass du nie mehr so jammerlich meckern musst.”

    Das Schneehoppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann frohlich der Herde nach.

    Heidi kam unter die Tannen zuruck.

    “O Grosvater, das war so schon!”, rief es, noch bevor es bei ihm war. “Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich hier bringe!” Und damit schuttete Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schurzchen vor den Grosvater hin. Aber wie sahen die armen Blumchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen.

    “O Grosvater, was haben sie?”, rief Heidi ganz erschrocken aus. “So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?”

    “Die wollen drausen stehen in der Sonne und nicht ins Schurzchen hinein", sagte der Grosvater.

    “Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Grosvater, warum hat der Raubvogel so gekrachzt?”, fragte Heidi nun angelegentlich.

    “Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zusammen in die Hutte und essen zu Nacht, dann sag ich dir's.”

    So wurde getan, und wie nun spater Heidi auf seinem hohen Stuhl sas vor seinem Milchschusselchen und der Grosvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: “Warum krachzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Grosvater?”

    “Der hohnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele zusammensitzen in den Dorfern und einander bos machen. Da hohnt er hinunter: 'Wurdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Hohe steigen wie ich, so war's euch wohler!'“ Der Grosvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekrachz des Raubvogels dadurch noch eindrucklicher wurde in der Erinnerung.

    “Warum haben die Berge keinen Namen, Grosvater?”, fragte Heidi wieder.

    “Die haben Namen", erwiderte dieser, “und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er heist.”

    Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Turmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Grosvater sagte wohlgefallig: “Recht so, den kenn ich, der heist Falknis. Hast du noch einen gesehen?”

    Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem grosen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.

    “Den erkenn ich auch", sagte der Grosvater, “das ist die Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?”

    Nun erzahlte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schon es gewesen, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Grosvater auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hatte nichts davon gewusst.

    “Siehst du", erklarte der Grosvater, “das macht die Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schonsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.”

    Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen, wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf seinem Heulager, und traumte von lauter schimmernden Bergen und roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehoppli in frohlichen Sprungen.

    Bei der Grosmutter

    Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Geisen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag fur Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebraunt und so kraftig und gesund, dass ihm gar nie etwas fehlte, und so froh und glucklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vogelein leben auf allen Baumen im grunen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing uber die Berge hin, dann sagte etwa der Grosvater: “Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck uber alle Felsen ins Tal hinabwehen.”

    Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglucklich aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Geisen so storrig an diesen Tagen, dass er die doppelte Muhe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewohnt, dass sie nicht vorwarts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals unglucklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geisen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all den verschieden gearteten Geisen; aber auch das Hammern und Sagen und Zimmern des Grosvaters war sehr unterhaltend fur Heidi; und traf es sich, dass er gerade die schonen runden Geiskaschen zubereitete, wenn es daheim bleiben musste, so war das ein ganz besonderes Vergnugen, dieser merkwurdigen Tatigkeit zuzuschauen, wobei der Grosvater beide Arme blos machte und damit in dem grosen Kessel herumruhrte. Aber vor allem anziehend war fur das Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hutte. Da musste es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es auch sein mochte, denn so schon und wunderbar war gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug bekommen, zu sehen und zu horen, wie das wehte und wogte und rauschte in den Baumen mit groser Macht. Jetzt gab die Sonne nicht mehr heis wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strumpfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein dunnes Blattlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte nicht in der Hutte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.

    Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hande, wenn er fruh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel uber Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweis und kein einziges grunes Blattlein mehr zu sehen ringsum und um. Da kam der Geisenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster hinaufreichte, und dann noch hoher, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Hauschen. Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Hutte zudecken wollte, dass man musste ein Licht anzunden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und am anderen Tag ging der Grosvater hinaus—denn nun schneite es nicht mehr—und schaufelte ums ganze Haus herum und warf grose, grose Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die Hutte herum; aber nun waren die Fenster wieder frei und auch die Tur, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Grosvater am Feuer sasen, jedes auf seinem Dreifus—denn der Grosvater hatte langst auch einen fur das Kind gezimmert—, da polterte auf einmal etwas heran und schlug immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tur auf. Es war der Geisenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tur gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so durchkampfen mussen, dass ganze Massen an ihm hangen geblieben und auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen.

    “Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als moglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnugen, dass er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es uberall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie ein gelinder Wasserfall.

    “Nun, General, wie steht's?”, sagte jetzt der Grosvater. “Nun bist du ohne Armee und musst am Griffel nagen.”

    “Warum muss er am Griffel nagen, Grosvater?”, fragte Heidi sogleich mit Wissbegierde.

    “Im Winter muss er in die Schule gehen", erklarte der Grosvater; “da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr, General?”

    “Ja, 's ist wahr", bestatigte Peter.

    Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte sehr viele Fragen uber die Schule und alles, was da begegnete und zu horen und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloss uber einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen musste, so konnte er derweilen schon trocknen von oben bis unten. Es war immer eine grose Anstrengung fur ihn, seine Vorstellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten.

    Der Grosvater hatte sich ganz still verhalten wahrend dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm ofter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhorte.

    “So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Starkung, komm, halt mit!” Damit stand der Grosvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor, und Heidi ruckte die Stuhle zum Tisch. Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Grosvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, dass es sich uberall nah zum Grosvater hielt, wo er ging und stand und sas. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein machtiges Stuck von dem schonen getrockneten Fleisch der Alm-Ohi ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das vergnugte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er nun “Gute Nacht” und “Dank Euch Gott” gesagt hatte und schon unter der Tur war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: “Am Sonntag komm ich wieder, heut uber acht Tag, und du solltest auch einmal zur Grosmutter kommen, hat sie gesagt.”

    Das war ein ganz neuer Gedanke fur Heidi, dass es zu jemandem gehen sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklarte: “Grosvater, jetzt muss ich gewiss zu der Grosmutter hinunter, sie erwartet mich. “

    “Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Grosvater abwehrend.

    Aber das Vorhaben sas fest in Heidis Sinn, denn die Grosmutter hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht funf-und sechsmal sagte: “Grosvater, jetzt muss ich gewiss gehen, die Grosmutter wartet ja immer auf mich.”

    Am vierten Tag, als es drausen knisterte und knarrte vor Kalte bei jedem Schritt und die ganze grose Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine schone Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl sas, da begann es wieder sein Spruchlein: “Heut muss ich aber gewiss zur Grosmutter gehen, es wahrt ihr sonst zu lange.” Da stand der Grosvater auf vom Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: “So komm!” In groser Freude hupfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen Asten lag der weise Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und funkelte es uberall von den Baumen in solcher Pracht, dass Heidi hoch aufsprang vor Entzucken und ein Mal ubers andere ausrief: “Komm heraus, Grosvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und Gold an den Tannen!” Denn der Grosvater war in den Schopf hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stosschlitten: Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte man die Fuse nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der Grosvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte beschauen mussen, nahm das Kind auf seinen Schos, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es hubsch warm bleibe, und druckte es fest mit dem linken Arm an sich, denn das war notig bei der kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Fusen. Da schoss der Schlitten davon die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hutte vom Geisenpeter. Der Grosvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:

    “So, nun geh hinein, und wenn es anfangt dunkel zu werden, dann komm wieder heraus und mach dich auf den Weg.” Dann kehrte er um mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.

    Heidi machte die Tur auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schusselchen auf einem Gestell, das war die kleine Kuche; dann kam gleich wieder eine Tur, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhutte, wie beim Grosvater, wo ein einziger, groser Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein kleines, uraltes Hauschen, wo alles eng war und schmal und durftig. Als Heidi in das Stubchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran sas eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses erkannte Heidi sogleich. In der Ecke sas ein altes, gekrummtes Mutterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: “Guten Tag, Grosmutter, jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es wahre lang, bis ich komme?”

    Die Grosmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befuhlte sie dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: “Bist du das Kind droben beim Alm-Ohi, bist du das Heidi?”

    “Ja, ja", bestatigte das Kind, “jetzt gerade bin ich mit dem Grosvater im Schlitten heruntergefahren.”

    “Wie ist das moglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag, Brigitte, ist der Alm-Ohi selber mit dem Kind heruntergekommen?”

    Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis unten; dann sagte sie: “Ich weis nicht, Mutter, ob der Ohi selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das Kind wird's nicht recht wissen.”

    Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei es im Ungewissen, und sagte: “Ich weis ganz gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das ist der Grosvater.”

    “Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer durch vom Alm-Ohi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht", sagte die Grosmutter; “wer hatte freilich auch glauben konnen, dass so etwas moglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!” Diese hatte das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun wohl berichten konnte, wie es aussah.

    “Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur Antwort; “aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den zweien gleich.”

    Unterdessen war Heidi musig geblieben; es hatte ringsum geguckt und alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: “Sieh, Grosmutter, dort schlagt es einen Laden immer hin und her, und der Grosvater wurde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er wieder fest halt, sonst schlagt er auch einmal eine Scheibe ein; sieh, sieh, wie er tut!”

    “Ach, du gutes Kind", sagte die Grosmutter, “sehen kann ich es nicht, aber horen kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden; da kracht und klappert es uberall, wenn der Wind kommt, und er kann uberall hereinblasen; es halt nichts mehr zusammen, und in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle alles uber uns zusammen und schlage uns alle drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern konnte an der Hutte, der Peter versteht's nicht.”

    “Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut, Grosmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort.” Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.

    “Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den Laden nicht", klagte die Grosmutter.

    “Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es recht hell wird, kannst du dann sehen, Grosmutter?”

    “Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen.”

    “Aber wenn du hinausgehst in den ganz weisen Schnee, dann wird es dir gewiss hell; komm nur mit mir, Grosmutter, ich will dir's zeigen.” Heidi nahm die Grosmutter bei der Hand und wollte sie fortziehen, denn es fing an, ihm ganz angstlich zumute zu werden, dass es ihr nirgends hell wurde.

    “Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine Augen.”

    “Aber dann doch im Sommer, Grosmutter", sagte Heidi, immer angstlicher nach einem guten Ausweg suchend; “weist, wenn dann wieder die Sonne ganz heis herunterbrennt und dann 'gute Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle gelben Blumlein glitzern, dann wird es dir wieder schon hell?”

    “Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die goldenen Blumlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr.”

    Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwahrend: “Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es niemand? Kann es gar niemand?”

    Die Grosmutter suchte nun das Kind zu trosten, aber es gelang ihr nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrubnis herauskommen. Die Grosmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jammerlich schluchzen musste. Jetzt sagte sie: “Komm, du gutes Heidi, komm hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen kann, dann hort man so gern ein freundliches Wort, und ich hore es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und erzahl mir etwas, was du machst da droben und was der Grosvater macht, ich habe ihn fruher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit manchem Jahr nichts mehr gehort von ihm als durch den Peter, aber der sagt nicht viel.”

    Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Tranen weg und sagte trostlich: “Wart nur, Grosmutter, ich will alles dem Grosvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, dass die Hutte nicht zusammenfallt, er kann alles wieder in Ordnung machen.”

    Die Grosmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit groser Lebendigkeit zu erzahlen von seinem Leben mit dem Grosvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Grosvater, was er alles aus Holz machen konne, Banke und Stuhle und schone Krippen, wo man fur das Schwanli und Barli das Heu hineinlegen konnte, und einen neuen grosen Wassertrog zum Baden im Sommer, und ein neues Milchschusselchen und Loffel, und Heidi wurde immer eifriger im Beschreiben all der schonen Sachen, die so auf einmal aus einem Stuck Holz herauskommen, und wie es dann neben dem Grosvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch einmal machen wolle. Die Grosmutter horte mit groser Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen: “Horst du's auch, Brigitte? Horst du, was es vom Ohi sagt?”

    Mit einem Mal wurde die Erzahlung unterbrochen durch ein groses Gepolter an der Tur, und herein stampfte der Peter, blieb aber sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: “Guten Abend, Peter!”

    “Ist denn das moglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief die Grosmutter ganz verwundert aus. “So geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?”

    “Gleich", gab der Peter zur Antwort.

    “So, so", sagte die Grosmutter ein wenig seufzend, “ich habe gedacht, es gabe vielleicht eine Anderung auf die Zeit, wenn du dann zwolf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin.”

    “Warum muss es eine Anderung geben, Grosmutter?”, fragte Heidi gleich mit Interesse.

    “Ich meine nur, dass er es etwa noch hatte lernen konnen", sagte die Grosmutter, “das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schone Lieder drin, die habe ich so lange nicht mehr gehort, und im Gedachtnis habe ich sie auch nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so konne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht lernen, es ist ihm zu schwer.”

    “Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel", sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte; “der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's merkte.”

    Nun sprang Heidi von seinem Stuhlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: “Gut Nacht, Grosmutter, ich muss auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und seiner Mutter die Hand und ging der Tur zu. Aber die Grosmutter rief besorgt: “Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort, der Peter muss mit dir, horst du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, dass es nicht umfallt, und steh nicht still mit ihm, dass es nicht friert, horst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?”

    “Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zuruck, “aber ich will schon nicht frieren”; damit war es zur Tur hinaus und huschte so behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Grosmutter rief jammernd: “Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!” Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Grosvater kommen, und mit wenigen rustigen Schritten stand er vor ihnen.

    “Recht so, Heidi, Wort gehalten!”, sagte er, packte das Kind wieder fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Ruckweg angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hutte ein und erzahlte der Grosmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal uber das andere sagen: “Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lasst, das Kind hat mir so wohl gemacht! Was hat es fur ein gutes Herz und wie kann es so kurzweilig erzahlen!” Und immer wieder freute sich die Grosmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder: “Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!” Und die Brigitte stimmte jedes Mal ein, wenn die Grosmutter wieder dasselbe sagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen Mund weit auseinander vor Vergnuglichkeit und sagte: “Hab's schon gewusst.”

    Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den Grosvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er: “Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's.”

    Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hutte eingetreten war und Heidi aus seiner Hulle herausgeschalt hatte, sagte es: “Grosvater, morgen mussen wir den Hammer und die grosen Nagel mitnehmen und den Laden festschlagen bei der Grosmutter und sonst noch viele Nagel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr.”

    “Mussen wir? So, das mussen wir? Wer hat dir das gesagt?”, fragte der Grosvater.

    “Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weis es sonst", entgegnete Heidi, “denn es halt alles nicht mehr fest und es ist der Grosmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so tut, und sie denkt: 'Jetzt fallt alles ein und gerade auf unsere Kopfe'; und der Grosmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weis gar nicht, wie man es konnte, aber du kannst es schon, Grosvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Grosvater, wir wollen?”

    Heidi hatte sich an den Grosvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: “Ja, Heidi, wir wollen machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Grosmutter, das konnen wir; morgen tun wir's.”

    Nun hupfte das Kind vor Freude im ganzen Huttenraum herum und rief ein Mal ums andere: “Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!”

    Der Grosvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgefuhrt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor der Tur der Geisenpeter-Hutte nieder und sagte: “Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder.” Dann legte er den Sack auf den Schlitten und ging um das Hauschen herum.

    Kaum hatte Heidi die Tur aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Grosmutter aus der Ecke: “Da kommt das Kind! Das ist das Kind!”, und lies vor Freude den Faden los und das Radchen stehen und streckte beide Hande nach dem Kinde aus. Heidi lief zu ihr, ruckte gleich das niedere Stuhlchen ganz nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Grosmutter schon wieder eine grose Menge von Dingen zu erzahlen und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertonten so gewaltige Schlage an das Haus, dass die Grosmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: “Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es fallt alles zusammen!” Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte trostend: “Nein, nein, Grosmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Grosvater mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird.”

    “Ach, ist auch das moglich! Ist auch so etwas moglich! So hat uns doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!”, rief die Grosmutter aus. “Hast du's gehort, Brigitte, was es ist, horst du's? Wahrhaftig, es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Ohi ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann.”

    Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Ohi mit groser Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und sagte: “Ich wunsche Euch guten Abend, Ohi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut, und die Mutter mochte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es hatte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran denken, denn sicher—”

    “Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; “was Ihr vom Alm-Ohi haltet, weis ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find ich selber.”

    Brigitte gehorchte sogleich, denn der Ohi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hammerte um das ganze Hauschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter das Dach, hammerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geisenstall hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tur trat und vom Grosvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, ware die ganze Umhullung vom Heidi abgefallen, und es ware fast oder ganz erfroren. Das wusste der Grosvater wohl und hielt das Kind ganz warm in seinem Arm.

    So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Grosmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen konnte. Vom fruhen Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden Schritt, und ging dann die Tur auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: “Gottlob! Da kommt's wieder!” Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzahlte so lustig von allem, was es wusste, dass es der Grosmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen, sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie fruher: “Brigitte, ist der Tag noch nicht um?”, sondern jedes Mal, wenn Heidi die Tur hinter sich schloss, sagte sie: “Wie war doch der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?” Und diese sagte: “Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom Essen weggestellt.” Und die Grosmutter sagte wieder: “Wenn mir nur der Herrgott das Kind erhalt und dem Alm-Ohi den guten Willen! Sieht es auch gesund aus, Brigitte?” Und jedes Mal erwiderte diese: “Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel.”

    Heidi hatte auch eine grose Anhanglichkeit an die alte Grosmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch der Grosvater nicht mehr hell machen konnte, uberkam es immer wieder eine grose Betrubnis; aber die Grosmutter sagte ihm immer wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi kam auch an jedem schonen Wintertag heruntergefahren auf seinem Schlitten. Der Grosvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geisenpeter- Hauschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nachte durch, und die Grosmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen konnen, das wolle sie auch dem Ohi nie vergessen.

    Beim Grosvater

    Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Ohi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun grose Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnuglich um sich, entdeckte den Geisenstall, der an die Hutte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hutte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Aste so stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und horte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Hutte herum und kam vorn wieder zum Grosvater zuruck. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hande auf den Rucken und betrachtete ihn. Der Grosvater schaute auf. “Was willst du jetzt tun?”, fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.

    “Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hutte", sagte Heidi.

    “So komm!”, und der Grosvater stand auf und ging voran in die Hutte hinein.

    “Nimm dort dein Bundel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.

    “Das brauch ich nicht mehr", erklarte Heidi.

    Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen gluhten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten. “Es kann ihm nicht an Verstand fehlen", sagte er halblaut. “Warum brauchst du's nicht mehr?”, setzte er laut hinzu.

    “Ich will am liebsten gehen wie die Geisen, die haben ganz leichte Beinchen.”

    “So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Grosvater, “es kommt in den Kasten.” Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tur auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich grosen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hutte. Da stand ein Tisch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Grosvaters Schlaflager, in einer anderen hing der grose Kessel uber dem Herd; auf der anderen Seite war eine grose Tur in der Wand, die machte der Grosvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strumpfe und Tucher und auf einem anderen einige Teller und Tassen und Glaser und auf dem obersten ein rundes Brot und gerauchertes Fleisch und Kase, denn in dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Ohi besas und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und sties sein Zeug hinein, so weit hinter des Grosvaters Kleider als moglich, damit es nicht so leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: “Wo muss ich schlafen, Grosvater?”

    “Wo du willst", gab dieser zur Antwort.

    Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute jedes Platzchen aus, wo am schonsten zu schlafen ware. In der Ecke voruber des Grosvaters Lagerstatte war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.

    “Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, “hier ist's schon! Komm und sieh einmal, wie schon es hier ist, Grosvater!”

    “Weis schon", tonte es von unten herauf.

    “Ich mache jetzt das Bett!”, rief das Kind wieder, indem es oben geschaftig hin und her fuhr; “aber du musst heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.”

    “So, so", sagte unten der Grosvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch traf.

    “Das ist recht gemacht", sagte der Grosvater, “jetzt wird das Tuch kommen, aber wart noch”—damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte Boden nicht durchgefuhlt werden konnte—; “so, jetzt komm her damit.” Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut, denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch uber das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.

    “Wir haben noch etwas vergessen, Grosvater", sagte es dann.

    “Was denn?”, fragte er.

    “Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das Leintuch und die Decke hinein.”

    “So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?”, sagte der Alte.

    “Oh, dann ist's gleich, Grosvater", beruhigte Heidi, “dann nimmt man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an den Heustock gehen, aber der Grosvater wehrte es ihm.

    “Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen grosen, schweren, leinenen Sack auf den Boden.

    “Ist das nicht besser als Heu?”, fragte er. Heidi zog aus Leibeskraften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen, aber die kleinen Hande konnten das schwere Zeug nicht bewaltigen. Der Grosvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor seinem neuen Lager und sagte: “Das ist eine prachtige Decke und das ganze Bett! Jetzt wollt ich, es ware schon Nacht, so konnte ich hineinliegen.”

    “Ich meine, wir konnten erst einmal etwas essen", sagte der Grosvater, “oder was meinst du?” Heidi hatte uber dem Eifer des Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein groser Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar nichts bekommen als fruh am Morgen sein Stuck Brot und ein paar Schlucke dunnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: “Ja, ich mein es auch.”

    “So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und folgte dem Kind auf dem Fus nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den grosen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, setzte sich auf den holzernen Dreifus mit dem runden Sitz davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein groses Stuck Kase uber das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Grosvater mit einem Topf und dem Kasebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schon geordnet, denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste, dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.

    “So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der Grosvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; “aber es fehlt noch etwas auf dem Tisch.”

    Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges Schusselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten standen zwei Glaser; augenblicklich kam das Kind zuruck und stellte Schusselchen und Glas auf den Tisch.

    “Recht so; du weist dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?” Auf dem einzigen Stuhl sas der Grosvater selbst. Heidi schoss pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifus zuruck und setzte sich drauf.

    “Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit unten", sagte der Grosvater; “aber von meinem Stuhl warst auch zu kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben, so komm!” Damit stand er auf, fullte das Schusselchen mit Milch, stellte es auf den Stuhl und ruckte den ganz nah an den Dreifus hin, so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Grosvater legte ein groses Stuck Brot und ein Stuck von dem goldenen Kase darauf und sagte: “Jetzt iss!” Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schusselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen Atemzug—denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht holen konnen—und stellte sein Schusselchen hin.

    “Gefallt dir die Milch?”, fragte der Grosvater.

    “Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.

    “So musst du mehr haben", und der Grosvater fullte das Schusselchen noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnuglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Kase darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz kraftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr vergnuglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Grosvater in den Geisenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen sauberte, dann frische Streu legte, dass die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem Schopfchen ging nebenan und hier runde Stocke zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Locher hineinbohrte und dann die runden Stocke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl, wie der vom Grosvater, nur viel hoher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung.

    “Was ist das, Heidi?”, fragte der Grosvater.

    “Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig", sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.

    “Es weis, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte der Grosvater vor sich hin, als er nun um die Hutte herumging und hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tur etwas zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nageln und Holzstucken von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder wegschlug, je nach dem Bedurfnis. Heidi ging Schritt fur Schritt hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der grosten Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr kurzweilig anzusehen.

    So kam der Abend heran. Es fing starker an zu rauschen in den alten Tannen, ein machtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das tonte dem Heidi so schon in die Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz frohlich daruber wurde und hupfte und sprang unter den Tannen umher, als hatte es eine unerhorte Freude erlebt. Der Grosvater stand unter der Schopftur und schaute dem Kind zu. Jetzt ertonte ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Sprungen, der Grosvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geis um Geis, wie eine Jagd, und mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in das Rudel hinein und begruste die alten Freunde von heute Morgen einen um den anderen. Bei der Hutte angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schone, schlanke Geisen, eine weise und eine braune, auf den Grosvater zu und leckten seine Hande, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zartlich die eine und dann die andere von den Geisen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch zu streicheln, und war ganz Gluck und Freude uber die Tierchen. “Sind sie unser, Grosvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?”, so fragte Heidi hintereinander in seinem Vergnugen, und der Grosvater konnte kaum sein stetiges “Ja, ja!” zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Geisen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der Alte: “Geh und hol dein Schusselchen heraus und das Brot.”

    Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Grosvater gleich von der Weisen das Schusselchen voll und schnitt ein Stuck Brot ab und sagte: “Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die Base Dete hat noch ein Bundelchen abgelegt fur dich, da seien Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's brauchst; ich muss nun mit den Geisen hinein, so schlaf wohl!”

    “Gut Nacht, Grosvater! Gut Nacht—wie heisen sie, Grosvater, wie heisen sie?”, rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und den Geisen nach.

    “Die Weise heist Schwanli und die Braune Barli", gab der Grosvater zuruck.

    “Gut Nacht, Schwanli, gut Nacht, Barli!”, rief nun Heidi noch mit Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte sich Heidi noch auf die Bank und as sein Brot und trank seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief, als nur einer im schonsten Furstenbett schlafen konnte. Nicht lange nachher, noch eh es vollig dunkel war, legte auch der Grosvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder drausen, und die kam sehr fruh uber die Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind so gewaltig, dass bei seinen Stosen die ganze Hutte erzitterte und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und achzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen drausen tobte es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten in der Nacht stand der Grosvater auf und sagte halblaut vor sich hin: “Es wird sich wohl furchten.” Er stieg die Leiter hinauf und trat an Heidis Lager heran. Der Mond drausen stand einmal hell leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken daruber hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben leuchtend durch die runde Offnung herein und fiel gerade auf Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden Armchen und traumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen sah ganz wohlgemut aus. Der Grosvater schaute so lange auf das friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zuruck.

    Der Hausherr hort allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehort hat

    Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann grose Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf-und Treppabrennen, denn eben war der Hausherr von seiner Reise zuruckgekehrt, und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge schoner Sachen mit nach Hause.

    Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten, um sie zu begrusen. Heidi sas bei ihr, denn es war die Zeit des spaten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara begruste ihren Vater mit groser Zartlichkeit, denn sie liebte ihn sehr, und der gute Papa gruste sein Klarchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich leise in eine Ecke zuruckgezogen hatte, und sagte freundlich: “Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen, Klara und du? Nicht zanken und bose werden, und dann weinen und dann versohnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?”

    “Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.

    “Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf Klara schnell ein.

    “So ist's gut, das hor ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand. “Nun musst du aber erlauben, Klarchen, dass ich etwas geniese; heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!”

    Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fraulein Rottenmeier den Tisch uberschaute, der fur sein Mittagsmahl gerustet war. Nachdem Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenuber Platz genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte sich der Hausherr zu ihr: “Aber Fraulein Rottenmeier, was muss ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klarchen ist ganz munter.”

    “Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, “Klara ist mit betroffen, wir sind furchterlich getauscht worden.”

    “Wieso?”, fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein.

    “Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine Gespielin fur Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weis, wie sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermadchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu beruhren, durch das Leben gehen.”

    “Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, “dass auch die Schweizerkinder den Erdboden beruhren, wenn sie vorwarts kommen wollen; sonst waren ihnen wohl Flugel gewachsen statt der Fuse.”

    “Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fraulein fort; “Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns voruberziehen.”

    “Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fraulein Rottenmeier?”

    “Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster, als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich getauscht worden.”

    “Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.

    “Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit was fur Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevolkert hat; davon konnte der Herr Kandidat erzahlen.”

    “Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fraulein Rottenmeier?”

    “Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Auffuhrung dieses Wesens ware nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es Anfalle von volliger Verstandesgestortheit hat.”

    Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht fur wichtig gehalten; aber Gestortheit des Verstandes? Eine solche konnte ja fur seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute Fraulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Storung zu bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tur aufgetan und der Herr Kandidat angemeldet.

    “Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!”, rief ihm Herr Sesemann entgegen. “Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!” Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. “Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee mit mir, Fraulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich— keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen ist und das Sie unterrichten. Was hat es fur eine Bewandtnis mit den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem Verstand?”

    Der Herr Kandidat musste erst seine Freude uber Herrn Sesemanns gluckliche Ruckkehr aussprechen und ihn willkommen heisen, weswegen er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drangte ihn, dass er ihm Aufschluss gebe uber die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Kandidat: “Wenn ich mich uber das Wesen dieses jungen Madchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so mochte ich vor allem darauf aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlassigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspateten Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines langeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse Dauer uberschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite—”

    “Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, “Sie geben sich wirklich zu viel Muhe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten Sie uberhaupt von diesem Umgang fur mein Tochterchen?”

    “Ich mochte dem jungen Madchen in keiner Art zu nahe treten", begann der Herr Kandidat wieder, “denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das junge Madchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die Entwicklung dieses, ich mochte sagen noch vollig, wenigstens teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet—”

    “Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht storen, ich werde—ich muss schnell einmal nach meiner Tochter sehen.” Damit lief Herr Sesemann zur Tur hinaus und kam nicht wieder. Druben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Tochterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um: “Hor mal, Kleine, hol mir doch schnell—wart einmal—hol mir mal”—(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)—“hol mir doch mal ein Glas Wasser.”

    “Frisches?”, fragte Heidi.

    “Jawohl! Jawohl! Recht frisches!”, gab Herr Sesemann zuruck. Heidi verschwand.

    “Nun, mein liebes Klarchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an sein Tochterchen heranruckte und dessen Hand in die seinige legte, “sag du mir klar und fasslich: Was fur Tiere hat diese deine Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fraulein Rottenmeier denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das sagen?”

    Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber fur Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzahlte erst dem Vater die Geschichten von der Schildkrote und den jungen Katzen und erklarte ihm dann Heidis Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr Sesemann herzlich. “So willst du nicht, dass ich das Kind nach Haus schicke, Klarchen, du bist seiner nicht mude?”, fragte der Vater.

    “Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!”, rief Klara abwehrend aus. “Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi erzahlt mir auch so viel.”

    “Schon gut, schon gut, Klarchen, da kommt ja auch deine Freundin schon wieder. Na, schones, frisches Wasser geholt?”, fragte Herr Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.

    “Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.

    “Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?”, sagte Klara.

    “Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Strase ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in die andere Strase hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit den weisen Haaren lasst Herrn Sesemann freundlich grusen.”

    “Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, “und wer ist denn der Herr?”

    “Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: 'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte: 'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann sagte er den Grus und auch noch, Herr Sesemann solle sich's schmecken lassen.”

    “So, und wer lasst mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der Herr denn weiter aus?”, fragte Herr Sesemann.

    “Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes Ding hangt daran mit einem grosen roten Stein und auf seinem Stock ist ein Rosskopf.”

    “Das ist der Herr Doktor”—“Das ist mein alter Doktor", sagten Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen Betrachtungen uber diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich zufuhren zu lassen.

    Noch an demselben Abend erklarte Herr Sesemann, als er allein mit Fraulein Rottenmeier im Esszimmer sas, um allerlei hausliche Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und angenehmer als jede andere. “Ich wunsche daher", setzte Herr Sesemann sehr bestimmt hinzu, “dass dieses Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und seine Eigentumlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie ubrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fraulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe fur Sie in Aussicht, da in nachster Zeit meine Mutter zu ihrem langeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl, Fraulein Rottenmeier?”

    “Jawohl, das weis ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hilfe.—

    Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause, schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschafte wieder nach Paris, und er trostete sein Tochterchen, das mit der nahen Abreise nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der Grosmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.

    Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte, der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt wurde, um sie abzuholen.

    Klara war voller Freude uber die Nachricht und erzahlte noch an demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Grosmama, dass Heidi auch anfing, von der 'Grosmama' zu reden, worauf Fraulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fuhlte sich unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann spater entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fraulein Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklarte ihm hier, es habe niemals den Namen 'Grosmama' anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnadige Frau' anzureden. “Verstehst du das?”, fragte die Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so abschliesenden Blick zuruck, dass Heidi sich keine Erklarung mehr erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.

    Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge

    Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Tochterlein, Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestosen wurde. Jetzt sas es im so genannten Studierzimmer, das neben der grosen Essstube lag und wo vielerlei Geratschaften herumstanden und—lagen, die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier gewohnlich sich aufhielt. An dem grosen, schonen Bucherschrank mit den Glasturen konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Tochterchen der tagliche Unterricht erteilt wurde.

    Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde, blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die grose Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: “Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fraulein Rottenmeier?”

    Die Letztere sas sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hulle um sich, einen grosen Kragen oder Halbmantel, welcher der Personlichkeit einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhoht wurde durch eine Art von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fraulein Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, fuhrte die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht uber das ganze Dienstpersonal.

    Herr Sesemann war meistens auf Reisen, uberlies daher dem Fraulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein Tochterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen Wunsch geschehen durfe.

    Wahrend oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fraulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustur die Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fraulein Rottenmeier so spat noch storen durfe.

    “Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; “klingeln Sie den Sebastian herunter, drinnen im Korridor.”

    Dete tat, wie ihr geheisen war, und der Bediente des Hauses kam die Treppe herunter mit grosen, runden Knopfen auf seinem Aufwarterrock und fast ebenso grosen runden Augen im Kopfe.

    “Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fraulein Rottenmeier noch storen durfe", brachte die Dete wieder an.

    “Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zuruck; “klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne weitere Auskunft verschwand der Sebastian.

    Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer Tinette mit einem blendend weisen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes und einer spottischen Miene auf dem Gesicht.

    “Was ist?”, fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe herunter: “Sie sind erwartet!”

    Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete hoflich an der Tur stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so fremden Boden.

    Fraulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam naher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte sein einfaches Baumwollrockchen an und sein altes, zerdrucktes Strohhutchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.

    “Wie heisest du?”, fragte Fraulein Rottenmeier, nachdem auch sie einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte.

    “Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.

    “Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?”, fragte Fraulein Rottenmeier weiter.

    “Das weis ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.

    “Ist das eine Antwort!”, bemerkte die Dame mit Kopfschutteln. “Jungfer Dete, ist das Kind einfaltig oder schnippisch?”

    “Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden fur das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete, nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stos gegeben hatte fur die unpassende Antwort. “Es ist aber nicht einfaltig und auch nicht schnippisch, davon weis es gar nichts; es meint alles so, wie es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte gutige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig.”

    “Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte Fraulein Rottenmeier. “Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch sagen, dass mir das Kind fur sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin fur Fraulein Klara musste in ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und uberhaupt ihre Beschaftigungen zu teilen. Fraulein Klara hat das zwolfte Jahr zuruckgelegt; wie alt ist das Kind?”

    “Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, “es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwartig, wie alt es sei; es ist wirklich ein wenig junger, viel trifft es nicht an, ich kann's so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch etwas dazu sein, nehm ich an.”

    “Jetzt bin ich acht, der Grosvater hat's gesagt", erklarte Heidi. Die Base sties es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen.

    “Was, erst acht Jahre alt?”, rief Fraulein Rottenmeier mit einiger Entrustung aus. “Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und was hast du denn gelernt? Was hast du fur Bucher gehabt bei deinem Unterricht?”

    “Keine", sagte Heidi.

    “Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?”, fragte die Dame weiter.

    “Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete Heidi.

    “Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht lesen!”, rief Fraulein Rottenmeier im hochsten Schrecken aus. “Ist es die Moglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?”

    “Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemas.

    “Jungfer Dete", sagte Fraulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in denen sie nach Fassung rang, “es ist alles nicht nach Abrede, wie konnten Sie mir dieses Wesen zufuhren?” Aber die Dete lies sich nicht so bald einschuchtern; sie antwortete herzhaft: “Mit Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein musse, so ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine nehmen, denn die Groseren sind bei uns dann nicht mehr so apart, und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und nachsehen, wie es geht mit ihm.” Mit einem Knicks war die Dete zur Tur hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten. Fraulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.

    Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tur, wo es von Anfang an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: “Komm hierher!”

    Heidi trat an den Rollstuhl heran.

    “Willst du lieber Heidi heisen oder Adelheid?”, fragte Klara.

    “Ich heise nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.

    “So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; “der Name gefallt mir fur dich, ich habe ihn aber nie gehort, ich habe aber auch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so kurzes, krauses Haar gehabt?”

    “Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.

    “Bist du gern nach Frankfurt gekommen?”, fragte Klara weiter.

    “Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der Grosmutter weise Brotchen!”, erklarte Heidi.

    “Du bist aber ein kurioses Kind!”, fuhr jetzt Klara auf. “Man hat dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe ans Gesicht heran, so, als ware er auf einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gahnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fraulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr groses Taschentuch hervor und halt es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weis recht gut, dass sie nur ganz schrecklich gahnt dahinter, und dann sollte ich auch so stark gahnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgahne, so holt Fraulein Rottenmeier gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch lieber Gahnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann zuhoren, wie du lesen lernst.”

    Heidi schuttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen horte.

    “Doch, doch, Heidi, naturlich musst du lesen lernen, alle Menschen mussen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals bose, und er erklart dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas erklart, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten und gar nichts sagen, sonst erklart er dir noch viel mehr und du verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas gelernt hast und es weist, dann verstehst du schon, was er gemeint hat.”

    Jetzt kam Fraulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zuruck; sie hatte Dete nicht mehr zuruckrufen konnen und war sichtlich aufgeregt davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlasslich sagen konnen, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt ruckgangig zu machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer hinuber, und von da wieder zuruck, und kehrte dann unmittelbar wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen eben nachdenklich uber den gedeckten Tisch gleiten lies, um zu sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.

    “Denk Er morgen Seine grosen Gedanken fertig und mach Er, dass man heut noch zu Tische komme.”

    Mit diesen Worten fuhr Fraulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte als sonst gewohnlich—und sich mit so spottischem Gesicht hinstellte, dass selbst Fraulein Rottenmeier nicht wagte, sie anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.

    “Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette", sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; “es liegt alles bereit, nehmen Sie noch den Staub von den Mobeln weg.”

    “Es ist der Muhe wert", spottelte Tinette und ging.

    Unterdessen hatte Sebastian die Doppelturen zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fraulein Rottenmeier gegenuber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer, um den Rollstuhl hinuberzustosen. Wahrend er den Griff hinten am Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf einmal fuhr er auf. “Na, was ist denn da Besonderes dran?”, schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan, hatte er Fraulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: “Du siehst dem Geisenpeter gleich.”

    Entsetzt schlug die Dame ihre Hande zusammen. “Ist es die Moglichkeit!”, stohnte sie halblaut. “Nun duzt sie mir den Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!”

    Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.

    Fraulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es sollte den Platz ihr gegenuber einnehmen. Sonst kam niemand zu Tische, und es war viel Platz da; die drei sasen auch weit auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schussel zum Anbieten guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schones, weises Brotchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die Ahnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen fur den Sebastian erweckt haben, denn es sas mauschenstill und ruhrte sich nicht, bis er mit der grosen Schussel zu ihm herantrat und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das Brotchen und fragte: “Kann ich das haben?” Sebastian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf Fraulein Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage fur einen Eindruck auf sie mache. Augenblicklich ergriff Heidi sein Brotchen und steckte es in die Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an; er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte es: “Soll ich auch von dem essen?” Sebastian nickte wieder. “So gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schussel in seinen Handen fing an gefahrlich zu zittern.

    “Er kann die Schussel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen", sagte jetzt Fraulein Rottenmeier mit strengem Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. “Dir, Adelheid, muss ich uberall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr Fraulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. “Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte. “Dann", fuhr sie weiter, “muss ich dir hauptsachlich bemerken, dass du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als (Sie) oder (Er), horst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen hore. Auch Tinette nennst du (Sie), Jungfer Tinette. Mich nennst du so, wie du mich von allen nennen horst; wie du Klara nennen sollst, wird sie selbst bestimmen.”

    “Naturlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge von Verhaltungsmasregeln, uber Aufstehen und Zubettegehen, uber Hereintreten und Hinausgehen, uber Ordnunghalten, Turenschliesen, und uber alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor funf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an den Sesselrucken und schlief ein. Als dann nach langerer Zeit Fraulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer Unterweisung, sagte sie: “Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?”

    “Heidi schlaft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem Gesicht, denn das Abendessen war fur sie seit langer Zeit nie so kurzweilig verflossen.

    “Es ist doch vollig unerhort, was man mit diesem Kind erlebt!”, rief Fraulein Rottenmeier in grosem Arger und klingelte so heftig, dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigesturzt kamen; aber trotz allen Larms erwachte Heidi nicht, und man hatte die groste Muhe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fraulein Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das nun fur Heidi eingerichtet war.

    Eine Grosmama

    Am folgenden Abend waren grose Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und dass jedermann grosen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weises Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Fusen finde, wohin sie sich auch setzen moge. Fraulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erloschen sei.

    Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette sturzten die Treppe hinunter; langsam und wurdevoll folgte Fraulein Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein Zimmer zuruckzuziehen und da zu warten, bis es gerufen wurde, denn die Grosmutter wurde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte seine Anrede. Es wahrte gar nicht lange, so steckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertur und sagte kurz angebunden wie immer: “Hinubergehen ins Studierzimmer!”

    Heidi hatte Fraulein Rottenmeier nicht fragen durfen, wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehort und nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tur zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Grosmutter mit freundlicher Stimme entgegen: “Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und lass dich recht ansehen.”

    Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: “Guten Tag, Frau Gnadige.”

    “Warum nicht gar!”, lachte die Grosmama. “Sagt man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp gehort?”

    “Nein, bei uns heist niemand so", erklarte Heidi ernsthaft.

    “So, bei uns auch nicht", lachte die Grosmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. “Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich die Grosmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten, wie?”

    “Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, “vorher hab ich schon immer so gesagt.”

    “So, so, verstehe schon!”, sagte die Grosmama und nickte ganz lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Grosmama gefiel dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schone weise Haare, und um den Kopf ging eine schone Spitzenkrause, und zwei breite Bander flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Grosmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.

    “Und wie heist du, Kind?”, fragte jetzt die Grosmama.

    “Ich heise nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heisen, so will ich schon Acht geben—”; Heidi stockte, denn es fuhlte sich ein wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fraulein Rottenmeier unversehens rief: “Adelheid!”, indem es ihm noch immer nicht recht gegenwartig war, dass dies sein Name sei, und Fraulein Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.

    “Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben Eingetretene ein, “dass ich einen Namen wahlen musste, den man doch aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu mussen, schon um der Dienstboten willen.”

    “Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, “wenn ein Mensch einmal 'Heidi' heist und an den Namen gewohnt ist, so nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!”

    Es war Fraulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie bestandig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war nichts zu machen; die Grosmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre funf Sinne hatte die Grosmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.

    Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte die Grosmama sich neben sie auf einen Lehnstuhl und schloss ihre Augen fur einige Minuten; dann stand sie schon wieder auf—denn sie war gleich wieder munter—und trat ins Esszimmer hinaus; da war niemand. “Die schlaft", sagte sie vor sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kraftig an die Tur. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken ein wenig zuruck bei dem unerwarteten Besuch.

    “Wo halt sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.

    “In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nutzlich beschaftigen konnte, wenn es den leisesten Tatigkeitstrieb hatte; aber Frau Sesemann sollte nur wissen, was fur verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausfuhrt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum erzahlen konnte.”

    “Das wurde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen sase wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie konnten zusehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzahlen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, ich will ihm einige hubsche Bucher geben, die ich mitgebracht habe.”

    “Das ist ja gerade das Ungluck, das ist es ja eben!”, rief Fraulein Rottenmeier aus und schlug die Hande zusammen. “Was sollte das Kind mit Buchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc erlernt; es ist vollig unmoglich, diesem Wesen auch nur (einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besase, er hatte diesen Unterricht langst aufgegeben.”

    “So, das ist merkwurdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. “Jetzt holen Sie mir's heruber, es kann vorlaufig die Bilder in den Buchern ansehen.”

    Fraulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste sich sehr verwundern uber die Nachricht von Heidis Beschranktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr schatzte; sie gruste ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf, uberaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gesprach mit ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.

    Heidi erschien im Zimmer der Grosmama und machte die Augen weit auf, als es die prachtigen bunten Bilder in den grosen Buchern sah, welche die Grosmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Grosmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit gluhendem Blick schaute es auf die Figuren, dann sturzten ihm plotzlich die hellen Tranen aus den Augen, und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die Grosmama schaute das Bild an. Es war eine schone, grune Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den grunen Gebuschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestutzt, der schaute den frohlichen Tierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen.

    Die Grosmama nahm Heidi bei der Hand. “Komm, komm, Kind", sagte sie in freundlichster Weise, “nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schone Geschichte dazu, die erzahl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schone Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzahlen. Komm, nun mussen wir etwas besprechen zusammen, trockne schon deine Tranen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder frohlich.”

    Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhoren konnte. Die Grosmama lies ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: “So, nun ist's gut, nun sind wir wieder froh zusammen.”

    Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: “Nun musst du mir was erzahlen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?”

    “O nein", antwortete Heidi seufzend; “aber ich wusste schon, dass man es nicht lernen kann.”

    “Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?”

    “Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer.”

    “Das ware! Und woher weist du denn diese Neuigkeit?”

    “Der Peter hat es mir gesagt und er weis es schon, der muss immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.”

    “So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehort und seine Buchstaben angesehen.”

    “Es nutzt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabanderliche.

    “Heidi", sagte nun die Grosmama, “jetzt will ich dir etwas sagen: Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine grose Menge von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst— du hast den Hirten gesehen auf der schonen, grunen Weide—; sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzahlte, alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm fur merkwurdige Dinge begegnen. Das mochtest du schon wissen, Heidi, nicht?”

    Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehort, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: “Oh, wenn ich nur schon lesen konnte!”

    “Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's wahren, das kann ich schon sehen, Heidi, und nun mussen wir mal nach der Klara sehen; komm, die schonen Bucher nehmen wir mit.” Damit nahm die Grosmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.

    Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fraulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem Kinde eine Veranderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es nicht heimgehen konne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht fur immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden wurde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Grosmama und Klara auch so denken wurden. So durfte es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen mochte, denn dass die Grosmama, die so freundlich mit ihm war, auch bose wurde, wie Fraulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus der Hutte—da war es auf einmal in seinem grosen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann druckte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass niemand es hore.

    Heidis freudloser Zustand entging der Grosmama nicht. Sie lies einige Tage vorubergehen und sah zu, ob die Sache sich andere und das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren wurde. Als es aber gleich blieb und die Grosmama manchmal am fruhen Morgen schon sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit groser Freundlichkeit: “Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast du einen Kummer?”

    Aber gerade dieser freundlichen Grosmama wollte Heidi nicht sich so undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so freundlich ware; so sagte Heidi traurig: “Man kann es nicht sagen.”

    “Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?”, fragte die Grosmama.

    “O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so unglucklich aus, dass es die Grosmama erbarmte.

    “Komm, Kind", sagte sie, “ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns druckt. Das verstehst du, nicht wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm fur alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem Bosen behute?”

    “O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.

    “Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weist du nicht, was das ist?”

    “Nur mit der ersten Grosmutter habe ich gebetet, aber es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen.”

    “Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort druckt und qualt und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann uberall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.”

    Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: “Darf man ihm alles, alles sagen?”

    “Alles, Heidi, alles.”

    Das Kind zog seine Hand aus den Handen der Grosmama und sagte eilig: “Kann ich gehen?”

    “Gewiss! Gewiss!”, gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinuber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hande und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Grosvater.—

    Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung uber einen merkwurdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: “Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier”—sie ruckte ihm den Stuhl zurecht. “So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?”

    “Im Gegenteil, gnadige Frau", begann der Herr Kandidat; “es ist etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hatte werfen konnen, denn nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine vollige Unmoglichkeit sein musse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden—”

    “Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?”, setzte hier Frau Sesemann ein.

    In sprachlosem Erstaunen schaute der uberraschte Herr die Dame an.

    “Es ist ja wirklich vollig wunderbar", sagte er endlich, “nicht nur, dass das junge Madchen nach all meinen grundlichen Erklarungen, und ungewohnlichen Bemuhungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kurzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weiter greifenden Erlauterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Madchens zu bringen, sozusagen uber Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfangern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass die gnadige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Moglichkeit vermutete.”

    “Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestatigte Frau Sesemann und lachelte vergnuglich; “es konnen auch einmal zwei Dinge glucklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide konnen nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.”

    Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tur hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig sas hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem grosten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das grose Buch liegen mit den schonen Bildern, und als es fragend nach der Grosmama blickte, sagte diese freundlich nickend: “Ja, ja, nun gehort es dir.”

    “Fur immer? Auch wenn ich heimgehe?”, fragte Heidi ganz rot vor Freude.

    “Gewiss, fur immer!”, versicherte die Grosmama; “morgen fangen wir an zu lesen.”

    “Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara hier ein; “wenn nun die Grosmama wieder fortgeht, dann musst du erst recht bei mir bleiben.”

    Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schones Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, uber seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schonen bunten Bilder gehorten. Sagte am Abend die Grosmama: “Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr begluckt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schoner und verstandlicher vor, und die Grosmama erklarte dann noch so vieles und erzahlte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grune Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnuglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schonen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schafchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen huten musste und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der Erklarungen bekommen, welche die Grosmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schone Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Grosmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte.

    Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat

    Schnell war der Winter und noch schneller der frohliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi war glucklich und froh wie die Voglein des Himmels und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Fruhlingstage, da der warme Fohn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen wurde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blumlein hervorlocken und die Tage der Weide kommen wurden, die fur Heidi das Schonste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Grosvater allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geisen wusste es so gut umzugehen als nur einer, und Schwanli und Barli liefen ihm nach wie treue Hundlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur seine Stimme horten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal vom Schullehrer im Dorfli den Bericht gebracht, der Alm-Ohi solle das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe schon mehr als das Alter und hatte schon im letzten Winter kommen sollen. Der Ohi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig uberbracht.

    Als die Marzsonne den Schnee an den Abhangen geschmolzen hatte und uberall die weisen Schneeglockchen hervorguckten im Tal und auf der Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschuttelt hatten und die Aste wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her von der Haustur zum Geisenstall und von da unter die Tannen und dann wieder hinein zum Grosvater, um ihm zu berichten, wie viel groser das Stuck gruner Boden unter den Baumen wieder geworden sei, und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht erwarten, dass alles wieder grun wurde und der ganze schone Sommer mit Grun und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.

    Als Heidi so am sonnigen Marzmorgen hin und her rannte und jetzt wohl zum zehnten Mal uber die Turschwelle sprang, ware es vor Schrecken fast ruckwarts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: “Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Grosvater?”

    “Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Loffel von Holz", erklarte Heidi und machte nun die Tur wieder auf.

    Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dorfli, der den Ohi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er trat in die Hutte ein, ging auf den Alten zu, der sich uber sein Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: “Guten Morgen, Nachbar.”

    Verwundert schaute dieser in die Hohe, stand dann auf und entgegnete: “Guten Morgen dem Herrn Pfarrer.” Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: “Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer.”

    Der Herr Pfarrer setzte sich. “Ich habe Euch lange nicht gesehen, Nachbar", sagte er dann.

    “Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.

    “Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr Pfarrer wieder an; “ich denke, Ihr konnt schon wissen, was meine Angelegenheit ist, woruber ich mich mit Euch verstandigen und horen will, was Ihr im Sinne habt.”

    Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tur stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.

    “Heidi, geh zu den Geisen", sagte der Grosvater. “Kannst ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme.”

    Heidi verschwand sofort.

    “Das Kind hatte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; “der Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?”

    “Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die Antwort.

    Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf seiner Bank sas und gar nicht nachgiebig aussah.

    “Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?”, fragte jetzt der Herr Pfarrer.

    “Nichts, es wachst und gedeiht mit den Geisen und den Vogeln; bei denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Boses von ihnen.”

    “Aber das Kind ist keine Geis und kein Vogel, es ist ein Menschenkind. Wenn es nichts Boses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten konnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nachsten Winter kommt es zur Schule, und zwar jeden Tag.”

    “Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.

    “Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernunftigen Tun beharren wollt?”, sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. “Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und vieles lernen konnen, ich hatte Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar.”

    “So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; “und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nachsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner fast in Wind und Schnee ersticken musste, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsuchtig und hatte Zufalle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!”

    “Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; “es ware nicht moglich, das Kind von hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb; tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hattet tun sollen, kommt wieder ins Dorfli herunter und lebt wieder mit den Menschen. Was ist das fur ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustosen wurde hier oben, wer wurde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hutte, und wie das zarte Kind es nur aushalten kann!”

    “Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das mochte ich dem Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weis, wo es Holz gibt, und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner Hutte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht fur mich; die Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben voneinander, so ist's beiden wohl.”

    “Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weis, was Euch fehlt", sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. “Mit der Verachtung der Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar: Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung, wo Ihr sie notig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann.”

    Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: “Ich zahle darauf, Nachbar, im nachsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten, guten Nachbarn. Es wurde mir grosen Kummer machen, wenn ein Zwang gegen Euch musste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesohnt mit Gott und den Menschen.”

    Der Alm-Ohi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: “Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht.”

    “So helf Euch Gott!”, sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tur hinaus und den Berg hinunter.

    Der Alm-Ohi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: “Jetzt wollen wir zur Grosmutter", erwiderte er kurz: “Heut nicht.” Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: “Gehen wir heut zur Grosmutter?”, war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und sagte nur: “Wollen sehen.” Aber noch bevor die Schusselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Tur herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schonen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhutte lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehorte. Der Ohi schaute sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gesprach zu fuhren, denn sie fing an zu ruhmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr gekannt und man konne schon sehen, dass es ihm nicht schlecht gegangen sei beim Grosvater. Sie habe aber gewiss auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe ja schon begreifen konnen, dass ihm das Kleine im Weg sein musse, aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun konnen; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie das Kind etwa unterbringen konnte, und deswegen komme sie auch heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da konne das Heidi zu einem solchen Gluck kommen, dass sie es gar nicht habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen, und nun konne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Gluck wie unter Hunderttausenden nicht eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast im schonsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges Tochterlein, das musse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer allein und musse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hatte es gern eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden konnte, wie die Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft fuhrte, denn ihre Herrschaft habe viel Mitgefuhl und mochte dem kranken Tochterlein eine gute Gespielin gonnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt, sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun konne gar kein Mensch wissen, was dem Heidi alles an Gluck und Wohlfahrt bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern mogen und es etwa mit dem eigenen Tochterchen etwas geben sollte— man konne ja nie wissen, es sei doch so schwachlich—, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so konnte ja das unerhorteste Gluck—

    “Bist du bald fertig?”, unterbrach hier der Ohi, der bis dahin kein Wort dazwischengeredet hatte.

    “Pah", gab die Dete zuruck und warf den Kopf auf, “Ihr tut gerade, wie wenn ich Euch das ordinarste Zeug gesagt hatte, und ist doch durchs ganze Prattigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brachte, die ich Euch gebracht habe.”

    “Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Ohi trocken.

    Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: “Ja, wenn Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weis nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten im Dorfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Gluck erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein, dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wunscht. Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe ich alle fur mich, es ist kein Einziger unten im Dorfli, der nicht mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Ohi; es gibt noch Sachen, die Euch dann konnten aufgewarmt werden, die Ihr nicht gern hortet, denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch manches aufgespurt, an das keiner mehr denkt.”

    “Schweig!”, donnerte der Ohi heraus, und seine Augen flammten wie Feuer. “Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund wie dich heut!”

    Der Ohi ging mit grosen Schritten zur Tur hinaus.

    “Du hast den Grosvater bos gemacht", sagte Heidi und blitzte mit seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.

    “Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drangte die Base; “wo sind deine Kleider?”

    “Ich komme nicht", sagte Heidi.

    “Was sagst du?”, fuhr die Base auf; dann anderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb argerlich weiter: “Komm, komm, du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar nicht weist.” Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und packte sie zusammen: “So, komm jetzt, nimm dort dein Hutchen, es sieht nicht schon aus, aber es ist gleich fur einmal, setz es auf und mach, dass wir fortkommen.”

    “Ich komme nicht", wiederholte Heidi.

    “Sei doch nicht so dumm und storrig wie eine Geis; denen hast du's abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Grosvater bos, du hast's ja gehort, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und jetzt musst du ihn nicht noch boser machen. Du weist gar nicht, wie schon es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und gefallt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der Grosvater dann wieder gut.”

    “Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?”, fragte Heidi.

    “Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim, wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und morgen fruh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen.”

    Die Base Dete hatte das Bundelchen Kleider auf den Arm und Heidi an die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.

    Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins Dorfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nutze nichts, dahin zu gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und grose Ruten suchen nutze etwas, denn diese konne man brauchen. So kam er eben in der Nahe seiner Hutte von der Seite her mit sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein ungeheures Bundel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm ankamen; dann sagte er: “Wo willst du hin?”

    “Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete Heidi, “aber ich will zuerst noch zur Grosmutter hinein, sie wartet auf mich.”

    “Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spat", sagte die Base eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; “du kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!” Damit zog die Base das Heidi fest weiter und lies es nicht mehr los, denn sie furchtete, es konne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es wolle nicht fort, und die Grosmutter konne ihm helfen wollen. Der Peter sprang in die Hutte hinein und schlug mit seinem ganzen Bundel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte und die Grosmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen mussen.

    “Was ist's denn? Was ist's denn?”, rief angstvoll die Grosmutter, und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: “Was hast, Peterli; warum tust so wust?”

    “Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklarte Peter.

    “Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?”, fragte die Grosmutter jetzt mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete gesehen zum Alm-Ohi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die Grosmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: “Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!”

    Die beiden Laufenden horten die Stimme, und die Dete mochte wohl ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief, was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: “Die Grosmutter hat gerufen, ich will zu ihr.”

    Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spat kamen, sondern dass sie morgen weiterreisen konnten, es konnte ja dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so konne es ja gleich gehen und dann erst noch der Grosmutter etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht fur Heidi, die ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.

    “Was kann ich der Grosmutter heimbringen?”, fragte es nach einer Welle.

    “Etwas Gutes", sagte die Base, “so schone, weiche Weisbrotchen, da wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen.”

    “Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestatigte das Heidi. “So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin mit den Brotchen.”

    Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bundel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Hausern vom Dorfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Turen entgegentonten, nur immer zuruck: “Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen, das Kind pressiert und wir haben noch weit.”

    “Nimmst's mit?”—“Lauft's dem Alm-Ohi fort?”—“Es ist nur ein Wunder, dass es noch am Leben ist!”—“Und dazu noch so rotbackig!” So tonte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi kein Wort sagte, sondern nur immer vorwarts strebte in grosem Eifer. —

    Von dem Tage an machte der Alm-Ohi, wenn er herunterkam und durchs Dorfli ging, ein boseres Gesicht als je zuvor. Er gruste keinen Menschen und sah mit seinem Kasereff auf dem Rucken, mit dem ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: “Gib Acht! Geh dem Alm-Ohi aus dem Weg, er konnte dir noch etwas tun!”

    Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dorfli, er ging nur durch und weit ins Tal hinab, wo er seinen Kase verhandelte und seine Vorrate an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im Dorfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Truppchen zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Ohi gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem Menschen mehr auch nur einen Grus abnehme, und alle kamen darin uberein, dass es ein groses Gluck sei, dass das Kind habe entweichen konnen, und man habe auch wohl gesehen, wie es fortgedrangt habe, so, als furchte es, der Alte sei schon hinter ihm drein, um es zuruckzuholen. Nur die blinde Grosmutter hielt unverruckt zum Alm-Ohi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzahlte sie es immer wieder, wie gut und sorgfaltig der Alm-Ohi mit dem Kind gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Hauschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen ware. So kamen denn auch diese Berichte ins Dorfli herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die Grosmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut horen, weil sie nichts mehr sehe.

    Der Alm-Ohi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geisenpeters; es war gut, dass er die Hutte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie blieb fur lange Zeit ganz unberuhrt. Jetzt begann die blinde Grosmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: “Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi horen konnte, eh ich sterben muss!”

    Fraulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag

    Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es sas auf einem hohen, weisen Bett und vor sich sah es einen grosen, weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weise Vorhange, und dabei standen zwei Sessel mit grosen Blumen darauf, und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehort hatte. Heidi sprang nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen und die Erde drausen, es fuhlte sich wie im Kafig hinter den grosen Vorhangen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter, um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zuruck; aber immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es fruh am Morgen, denn Heidi war gewohnt, fruh aufzustehen auf der Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tur und zu sehen, wie's drausen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen offen haben. Wie das Vogelein, das zum ersten Mal in seinem schon glanzenden Gefangnis sitzt, hin und her schiest und bei allen Staben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlupfen und in die Freiheit hinausfliegen konne, so lief Heidi immer von dem einen Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden konne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grune Gras und der letzte schmelzende Schnee an den Abhangen zum Vorschein kommen, und Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hatte, sie aufzudrucken; es blieb alles eisenfest aufeinander sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und uberdachte nun, wie es ware, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Grasboden kame, denn es erinnerte sich, dass es gestern Abend vorn am Haus nur uber Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an seiner Tur und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte kurz: “Fruhstuck bereit!”

    Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf dem spottischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen wurde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Gerausch, es war Fraulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief: “Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Fruhstuck ist? Komm heruber!”

    Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer sas Klara schon lang an ihrem Platz und begruste Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnugteres Gesicht als sonst gewohnlich, denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen wurde. Das Fruhstuck ging nun ohne Storung vor sich; Heidi as ganz anstandig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara wieder ins Studierzimmer hinubergerollt und Heidi wurde von Fraulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr Kandidat kommen wurde, um die Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren, sagte Heidi sogleich: “Wie kann man hinaussehen hier und ganz hinunter auf den Boden?”

    “Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara belustigt.

    “Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.

    “Doch, doch", versicherte Klara, “nur du noch nicht, und ich kann dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so macht er dir schon eines auf.”

    Das war eine grose Erleichterung fur Heidi zu wissen, dass man doch die Fenster offnen und hinausschauen konne, denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi erzahlte mit Freuden von der Alm und den Geisen und der Weide und allem, was ihm lieb war.

    Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fraulein Rottenmeier fuhrte ihn nicht, wie gewohnlich, ins Studierzimmer, denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in groser Aufregung ihre bedrangte Lage schilderte und wie sie in diese hineingekommen war.

    Sie hatte namlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe langst gewunscht, es mochte eine Gespielin fur sie ins Haus aufgenommen werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den Unterrichtsstunden ein Sporn, in der ubrigen Zeit eine anregende Gesellschaft fur Klara sein wurde. Eigentlich war die Sache fur Fraulein Rottenmeier selbst sehr wunschbar, denn sie wollte gern, dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme, wenn es ihr zu viel war, was ofters geschah. Herr Sesemann hatte geantwortet, er erfulle gern den Wunsch seiner Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderqualerei in seinem Hause—“was freilich eine sehr unnutze Bemerkung von dem Herrn war", setzte Fraulein Rottenmeier hinzu, “denn wer wollte Kinder qualen!” Nun aber erzahlte sie weiter, wie ganz erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und fuhrte alle Beispiele von seinem vollig begriffslosen Dasein an, die es bis jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn Kandidaten buchstablich beim Abc anfangen musse, sondern dass auch sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu beginnen hatte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklaren werde, zwei so verschiedene Wesen konnten nicht miteinander unterrichtet werden ohne grosen Schaden des vorgeruckteren Teiles; das ware fur Herrn Sesemann ein triftiger Grund, die Sache ruckgangig zu machen, und so wurde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin zuruckgeschickt wurde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung aber durfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und niemals einseitig im Urteilen. Er trostete Fraulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der einen Seite so zuruck sei, so mochte sie auf der anderen umso geforderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins Gleichgewicht kommen werde. Als Fraulein Rottenmeier sah, dass der Herr Kandidat sie nicht unterstutzen, sondern seinen Abc-Unterricht ubernehmen wollte, machte sie ihm die Tur zum Studierzimmer auf, und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit grosen Schritten im Zimmer auf und nieder, denn sie hatte zu uberlegen, wie die Dienstboten Adelheid zu benennen hatten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben, sie musste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort musste sich hauptsachlich auf das Verhaltnis zu den Dienstboten beziehen, dachte Fraulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungestort uberlegen, denn auf einmal ertonte drinnen im Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstande und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie sturzte hinein. Da lag auf dem Boden alles ubereinander, die samtlichen Studien- Hilfsmittel, Bucher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbachlein hervorfloss, die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.

    “Da haben wir's", rief Fraulein Rottenmeier handeringend aus. “Teppich, Bucher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch nie geschehen! Das ist das Ungluckswesen, da ist kein Zweifel!”

    Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwustung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht besturzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnugtem Gesicht die ungewohnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun erklarend: “Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig, fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie eine Kutsche gesehen.”

    “Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen) Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhoren und still zu sitzen hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen ware! Was wurde mir Herr Sesemann—”

    Fraulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter der geoffneten Haustur, stand Heidi und guckte ganz verblufft die Strase auf und ab.

    “Was ist denn? Was fallt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!”, fuhr Fraulein Rottenmeier das Kind an.

    “Ich habe die Tannen rauschen gehort, aber ich weis nicht, wo sie stehen, und hore sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute enttauscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Fohns in den Tannen ahnlich geklungen hatte, so dass es in hochster Freude dem Ton nachgerannt war.

    “Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das fur Einfalle! Komm herauf und sieh, was du angerichtet hast!” Damit stieg Fraulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun sehr verwundert vor der grosen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu horen.

    “Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder", sagte Fraulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; “zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du das verstehen?”

    “Ja", entgegnete Heidi, “aber ich will schon festsitzen.” Denn jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde still zu sitzen.

    Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gahnen war heute gar keine Zeit gewesen.

    Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann seine Beschaftigung selbst zu wahlen; so hatte Fraulein Rottenmeier ihm am Morgen erklart. Als nun nach Tisch Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fraulein Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da war, da es seine Beschaftigung selbst wahlen konnte. Das war dem Heidi sehr erwunscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Personlichkeit, die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen konne. Richtig, nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem grosen Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Kuche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit groser Deutlichkeit: “Sie oder Er!”

    Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur moglich war, und sagte ziemlich barsch: “Was soll das heisen, Mamsell?”

    “Ich mochte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Boses wie heute Morgen", fugte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her.

    “So, und warum muss es denn heisen Sie oder Er, das mocht ich zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zuruck.

    “Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; “Fraulein Rottenmeier hat es befohlen.”

    Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fraulein Rottenmeier befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: “Schon recht, so fahre die Mamsell nur zu.”

    “Ich heise gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein wenig geargert; “ich heise Heidi.”

    “Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich Mamsell sage", erklarte Sebastian.

    “Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heisen", sagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen musste, wie Fraulein Rottenmeier befahl.

    “Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer hinzu.

    “Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?”, fragte Sebastian jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank zurechtlegte.

    “Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?”

    “So, gerade so", und er machte den grosen Fensterflugel auf.

    Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu konnen; es langte nur bis zum Gesims hinauf.

    “Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen holzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der grosten Enttauschung zog es sogleich den Kopf wieder zuruck.

    “Man sieht nur die steinerne Strase hier, sonst gar nichts", sagte das Kind bedauerlich; “aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?”

    “Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.

    “Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen kann uber das ganze Tal hinab?”

    “Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und sieht weit uber alles weg.”

    Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tur hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Strase hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es konne nur uber die Strase gehen, so musste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Strase hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Strase hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hatten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nachsten Strasenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rucken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: “Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?”

    “Weis nicht", war die Antwort.

    “Wen kann ich denn fragen, wo er sei?”, fragte Heidi weiter.

    “Weis nicht.”

    “Weist du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?”

    “Freilich weis ich eine.”

    “So komm und zeige mir sie.”

    “Zeig du zuerst, was du mir dafur gibst.” Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schones Kranzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, uber die grunen Abhange! “Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, “willst du das?”

    Der Junge zog die Hand zuruck und schuttelte den Kopf.

    “Was willst du denn?”, fragte Heidi und steckte vergnugt sein Bildchen wieder ein.

    “Geld.”

    “Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?”

    “Zwanzig Pfennige.”

    “So komm jetzt.”

    Nun wanderten die beiden eine lange Strase hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rucken trage, und er erklarte ihm, es sei eine schone Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.

    Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der Junge stand still und sagte: “Da.”

    “Aber wie komm ich da hinein?”, fragte Heidi, als es die fest verschlossenen Turen sah.

    “Weis nicht", war wieder die Antwort.

    “Glaubst du, man konne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?”

    “Weis nicht.”

    Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kraften daran.

    “Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weis jetzt den Weg nicht mehr zuruck, du musst mir ihn dann zeigen.”

    “Was gibst du mir dann?”

    “Was muss ich dir dann wieder geben?”

    “Wieder zwanzig Pfennige.”

    Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tur geoffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann ziemlich erzurnt auf die Kinder und fuhr sie an: “Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Konnt ihr nicht lesen, was uber der Klingel steht: 'Fur solche, die den Turm besteigen wollen'?”

    Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort. Heidi antwortete: “Eben auf den Turm wollt ich.”

    “Was hast du droben zu tun?”, fragte der Turmer; “hat dich jemand geschickt?”

    “Nein", entgegnete Heidi, “ich mochte nur hinaufgehen, dass ich hinuntersehen kann.”

    “Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spas nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!” Damit kehrte sich der Turmer um und wollte die Tur zumachen.

    Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschos und sagte bittend: “Nur ein einziges Mal!”

    Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: “Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!”

    Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tur nieder und zeigte, dass er nicht mitwollte.

    Heidi stieg an der Hand des Turmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden diese immer schmaler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Turmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.

    “Da, jetzt guck hinunter", sagte er.

    Heidi sah auf ein Meer von Dachern, Turmen und Schornsteinen nieder; es zog bald seinen Kopf zuruck und sagte niedergeschlagen: “Es ist gar nicht, wie ich gemeint habe.”

    “Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm nun wieder herunter und laute nie mehr an einem Turm!”

    Der Turmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tur, die in des Turmers Stubchen fuhrte, und nebenan ging der Boden bis unter das schrage Dach hin. Dort hinten stand ein groser Korb und davor sas eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorubergehenden davor warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi stand still und schaute verwundert hinuber, eine so machtige Katze hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze Herden von Mausen, so holte sich die Katze ohne Muhe jeden Tag ein halbes Dutzend Mausebraten. Der Turmer sah Heidis Bewunderung und sagte: “Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die Jungen ansehen.”

    Heidi trat an den Korb heran und brach in ein groses Entzucken aus.

    “Oh, die netten Tierlein! Die schonen Katzchen!”, rief es ein Mal ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komischen Gebarden und Sprunge zu sehen, welche die sieben oder acht jungen Katzchen vollfuhrten, die in dem Korb rastlos ubereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.

    “Willst du eins haben?”, fragte der Turmer, der Heidis Freudensprungen vergnugt zuschaute.

    “Selbst fur mich? Fur immer?”, fragte Heidi gespannt und konnte das grose Gluck fast nicht glauben.

    “Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein Leid antun musste.

    Heidi war im hochsten Gluck. In dem grosen Hause hatten ja die Katzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!

    “Aber wie kann ich sie mitnehmen?”, fragte nun Heidi und wollte schnell einige fangen mit seinen Handen, aber die dicke Katze sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr erschrocken zuruckfuhr.

    “Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Turmer, der die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm gelebt.

    “Zum Herrn Sesemann in dem grosen Haus, wo an der Haustur ein goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklarte Heidi.

    Es hatte nicht einmal so viel gebraucht fur den Turmer, der schon seit langen Jahren auf dem Turm sas und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.

    “Ich weis schon", bemerkte er; “aber wem muss ich die Dinger bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehorst doch nicht Herrn Sesemann?”

    “Nein, aber die Klara, sie hat eine so grose Freude, wenn die Katzchen kommen!”

    Der Turmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.

    “Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen konnte! Eins fur mich und eins fur Klara, kann ich nicht?”

    “So wart ein wenig", sagte der Turmer, trug dann die alte Katze behutsam in sein Stubchen hinein und stellte sie an das Essschusselchen hin, schloss die Tur vor ihr zu und kam zuruck: “So, nun nimm zwei!”

    Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weises und dann ein gelb und weis gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.

    Der Junge sas noch auf den Stufen drausen, und als nun der Turmer hinter Heidi die Tur zugeschlossen hatte, sagte das Kind: “Welchen Weg mussen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?”

    “Weis nicht", war die Antwort.

    Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustur und die Fenster und die Treppen, aber der Junge schuttelte zu allem den Kopf, es war ihm alles unbekannt.

    “Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, “aus einem Fenster sieht man ein groses, groses, graues Haus und das Dach geht so”—Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger grose Zacken in die Luft hinaus.

    Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ahnliche Merkmale haben, seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustur mit dem grosen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er drangend: “Schnell! Schnell!”

    Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tur zu; den Jungen, der verblufft drausen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

    “Schnell, Mamsellchen", drangte Sebastian weiter, “gleich ins Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fraulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine Mamsell an, so fortzulaufen?”

    Heidi war ins Zimmer getreten. Fraulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebastian ruckte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem Stuhl sas, begann Fraulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem ganz feierlich-ernsten Ton: “Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen, wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlasst, ohne zu fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst bis zum spaten Abend; es ist eine vollig beispiellose Auffuhrung.”

    “Miau", tonte es wie als Antwort zuruck.

    Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. “Wie, Adelheid", rief sie in immer hoheren Tonen, “du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spas zu machen? Hute dich wohl, sag ich dir!”

    “Ich mache", fing Heidi an—“Miau! Miau!”

    Sebastian warf fast seine Schussel auf den Tisch und sturzte hinaus.

    “Es ist genug", wollte Fraulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tonte ihre Stimme gar nicht mehr. “Steh auf und verlass das Zimmer.”

    Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch einmal erklaren: “Ich mache gewiss”—“Miau! Miau! Miau!”

    “Aber Heidi", sagte jetzt Klara, “wenn du doch siehst, dass du Fraulein Rottenmeier so bose machst, warum machst du immer wieder 'miau'?”

    “Ich mache nicht, die Katzlein machen", konnte Heidi endlich ungestort hervorbringen.

    “Wie? Was? Katzen? junge Katzen?”, schrie Fraulein Rottenmeier auf. “Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft sie fort!” Damit sturzte die Dame ins Studierzimmer hinein und riegelte die Turen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren fur Fraulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schopfung. Sebastian stand drausen vor der Tur und musste erst fertig lachen, eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich nicht mehr halten, kaum noch seine Schussel auf den Tisch setzen. Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die Hilferufe der geangsteten Dame schon langere Zeit verklungen waren. Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Katzchen auf ihrem Schos, Heidi kniete neben ihr und beide spielten mit groser Wonne mit den zwei winzigen, graziosen Tierchen.

    “Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, “Sie mussen uns helfen; Sie mussen ein Nest finden fur die Katzchen, wo Fraulein Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie furchtet sich vor ihnen und will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie hintun?”

    “Das will ich schon besorgen, Fraulein Klara", entgegnete Sebastian bereitwillig; “ich mache ein schones Bettchen in einem Korb und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter kommt, verlassen Sie sich auf mich.” Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte bestandig vor sich hin, denn er dachte: “Das wird noch was absetzen!”, und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fraulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

    Nach langerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fraulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tur auf und rief durch das Spaltchen heraus: “Sind die abscheulichen Tiere fortgeschafft?”

    “Jawohl! Jawohl!”, gab Sebastian zuruck, der sich im Zimmer zu schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und leise fasste er die beiden Katzchen auf Klaras Schos und verschwand damit.

    Die besondere Strafrede, die Fraulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute fuhlte sie sich zu erschopft nach all den vorhergegangenen Gemutsbewegungen von Arger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend zuruck, und Klara und Heidi folgten vergnugt nach, denn sie wussten ihre Katzchen in einem guten Bett.

    Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

    Die Grosmama hatte wahrend der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fraulein Rottenmeier, wahrscheinlich der Ruhe bedurftig, geheimnisvoll verschwand, sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach funf Minuten war sie wieder auf den Fusen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschaftigt und unterhalten. Die Grosmama hatte hubsche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schurzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nahen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die schonsten Rocke und Mantelchen, denn die Grosmama hatte immer Zeugstucke von den prachtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Grosmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die groste Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhaltnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

    Es war die letzte Woche, welche die Grosmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem grosen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Grosmama, dass es ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: “Nun komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht frohlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?”

    “Ja", nickte Heidi.

    “Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?”

    “Ja.”

    “Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh mache?”

    “O nein, ich bete jetzt gar nie mehr.”

    “Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich horen? Warum betest du denn nicht mehr?”

    “Es nutzt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehort, und ich glaube es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, “wenn nun am Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiss gar nicht gehort.”

    “So, wie weist du denn das so sicher, Heidi?”

    “Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der liebe Gott hat es nie getan.”

    “Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott ist fur uns alle ein guter Vater, der immer weis, was gut fur uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut fur uns ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut fur dich; der liebe Gott hat dich schon gehort, er kann alle Menschen auf einmal anhoren und ubersehen, siehst du, dafur ist er der liebe Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl wusste, was fur dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das Heidi soll schon einmal haben, wofur es bittet, aber erst dann, wenn es ihm gut ist, und so wie es daruber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es doch besser gewesen ware, ich hatte ihm seinen Willen nicht getan, dann weint es nachher und sagt: Hatte mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofur ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich gemeint habe.' Und wahrend nun der liebe Gott auf dich niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und taglich zu ihm kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt, da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn einer es so macht und der liebe Gott hort seine Stimme gar nie mehr unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lasst ihn gehen, wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert: 'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!' Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen, dass er alles gut fur dich machen werde, so dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst?”

    Heidi hatte sehr aufmerksam zugehort; jedes Wort der Grosmama fiel in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.

    “Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi reumutig.

    “So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei nur getrost!”, ermunterte die Grosmama, und Heidi lief sofort in sein Zimmer hinuber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen moge.—

    Der Tag der Abreise war gekommen, es war fur Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Grosmama wusste es so einzurichten, dass sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute Grosmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als ware alles voruber, und solange noch der Tag wahrte, sasen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es nun weiter kommen sollte.

    Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da war, da die Kinder gewohnlich zusammensasen, trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte: “Ich will dir nun immer, immer vorlesen; willst du, Klara?”

    Der Klara war der Vorschlag recht fur einmal, und Heidi machte sich mit Eifer an seine Tatigkeit. Aber es ging nicht lange, so horte schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen begonnen, die von einer sterbenden Grosmutter handelte, als es auf einmal laut aufschrie: “Oh, nun ist die Grosmutter tot!”, und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las, war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun sei die Grosmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer lauterem Weinen: “Nun ist die Grosmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brotchen mehr bekommen! “

    Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklaren, dass es ja nicht die Grosmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war, dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untrostlich weiter, denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Grosmutter konne ja sterben, wahrend es so weit weg sei, und der Grosvater auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und konne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.

    Wahrenddessen war Fraulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte noch Klaras Bemuhungen, Heidi uber seinen Irrtum aufzuklaren, mit angehort. Als das Kind aber immer noch nicht aufhoren konnte zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: “Adelheid, nun ist des grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbruchen den Lauf lasst, so nehme ich das Buch aus deinen Handen und fur immer!”

    Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weis vor Schrecken, das Buch war sein hochster Schatz. Es trocknete in groster Eile seine Tranen und schluckte und wurgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter, so dass kein Tonchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu uberwinden und nicht aufzuschreien, dass Klara ofter ganz erstaunt sagte: “Heidi, du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe. “ Aber die Grimassen machten keinen Larm und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles wieder ins Geleise fur einige Zeit und war tonlos vorubergegangen. Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so mit anzusehen und Zeuge sein zu mussen, wie Heidi bei Tisch die schonsten Gerichte an sich vorubergehen lies und nichts essen wollte. Er flusterte ihm auch ofter ermunternd zu, wenn er ihm eine Schussel hinhielt: “Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Loffel voll, noch einen!”, und dergleichen vaterlicher Rate mehr; aber es half nichts: Heidi as fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war, und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen hinein, so dass es gar niemand horen konnte.

    So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Steinstrasen heraus, sondern kehrte gewohnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch grose, schone Strasen, wo Hauser und Menschen in Fulle zu sehen waren, aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schonen gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen, und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weisen Mauern am Hause gegenuber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der Peter wieder zur Alm fuhre mit den Geisen, da die goldenen Cystusroschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer standen. Heidi setzte sich in seinem einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Handen die Augen zu, dass es den Sonnenschein druben an der Mauer nicht sehe; und so sas es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos niederkampfend, bis Klara wieder nach ihm rief.

    Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

    Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustur geoffnet und ihn zum Studierzimmer gefuhrt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian die Treppe vollig hinunterschoss, denn er dachte: “So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen sein.” Er riss die Tur auf—ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rucken stand vor ihm.

    “Was soll das heisen?”, fuhr ihn Sebastian an. “Ich will dich lehren, Glocken herunterzureisen! Was hast du hier zu tun?”

    “Ich muss zur Klara", war die Antwort.

    “Du ungewaschener Strasenkafer du; kannst du nicht sagen ' Fraulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fraulein Klara zu tun?”, fragte Sebastian barsch.

    “Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklarte der Junge.

    “Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weist du uberhaupt, dass ein Fraulein Klara hier ist?”

    “Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zuruck den Weg gezeigt, macht vierzig.”

    “Da siehst du, was fur Zeug du zusammenflunkerst; Fraulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo du hingehorst, bevor ich dir dazu verhelfe!”

    Aber der Junge lies sich nicht einschuchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: “Ich habe sie doch gesehen auf der Strase, ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir.”

    “Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, “das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt.” Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: “'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tur, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fraulein hort es gern.”

    Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

    “Es ist ein Junge da, der durchaus an Fraulein Klara selbst etwas zu bestellen hat", berichtete Sebastian.

    Klara war sehr erfreut uber das ausergewohnliche Ereignis.

    “Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, “nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss.”

    Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fraulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf.—Kamen die Tone von der Strase her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertonen? Und dennoch—wahrhaftig—sie sturzte durch das lange Esszimmer und riss die Tur auf. Da—unglaublich—da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit groster Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi horten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.

    “Aufhoren! Sofort aufhoren!”, rief Fraulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde ubertont von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu—aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Fusen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Fusen durch—eine Schildkrote. Jetzt tat Fraulein Rottenmeier einen Sprung in die Hohe, wie sie seit vielen Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskraften: “Sebastian! Sebastian!”

    Plotzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik ubertont. Sebastian stand drausen vor der halb offenen Tur und krummte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fraulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.

    “Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!”, rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkrote erfasst hatte, druckte ihm drausen etwas in die Hand und sagte: “Vierzig fur Fraulein Klara, und vierzig furs Spielen, das hast du gut gemacht”; damit schloss er hinter ihm die Haustur. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fraulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ahnliche Grauel zu verhuten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken wurde.

    Schon wieder klopfte es an die Tur, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein groser Korb gebracht worden, der sogleich an Fraulein Klara selbst abzugeben sei.

    “An mich?”, fragte Klara erstaunt und auserst neugierig, was das sein mochte; “zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht.”

    Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder.

    “Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt", bemerkte Fraulein Rottenmeier.

    Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb.

    “Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren unterbrechend, “konnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?”

    “In einer Hinsicht konnte man dafur, in einer anderen dawider sein", entgegnete der Herr Kandidat; “(dafur) sprache der Grund, dass, wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist—”; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes sas nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Katzchen darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie uberall herum, dass es war, als ware das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen uber die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fraulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Fuse herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzucken: “Oh, die niedlichen Tierchen! Die lustigen Sprunge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!” Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fus in die Hohe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fraulein Rottenmeier sas erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskraften zu schreien: “Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!”, denn vom Sessel aufzustehen konnte sie unmoglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.

    Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschopfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er fur die zwei von gestern bereitet hatte.

    Auch am heutigen Tage hatte kein Gahnen wahrend der Unterrichtsstunden stattgefunden. Am spaten Abend, als Fraulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlanglich erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer herauf, um hier eine grundliche Untersuchung uber die strafwurdigen Vorgange anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die samtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigefuhrt hatte. Fraulein Rottenmeier sas weis vor Entrustung da und konnte erst keine Worte fur ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.

    “Adelheid", begann sie mit strengem Ton, “ich weis nur (eine) Strafe, die dir empfindlich sein konnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lasst.”

    Heidi horte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstosende Raum in der Almhutte, den der Grosvater Keller nannte, wo immer die fertigen Kase lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen.

    Aber Klara erhob einen lauten Jammer: “Nein, nein, Fraulein Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzahlen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll.”

    Gegen diesen Oberrichter durfte Fraulein Rottenmeier nichts einwenden, umso weniger, da er wirklich in Balde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte etwas grimmig: “Gut, Klara, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen.” Damit verlies sie das Zimmer.

    Es verflossen nun ein paar ungestorte Tage, aber Fraulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stundlich trat ihr die Tauschung vor Augen, die sie in Heidis Personlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara war sehr vergnugt; sie langweilte sich nie mehr, denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklaren und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hornchen oder einem Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: “Es ist eine Geis!”, oder: “Es ist ein Raubvogel!” Denn die Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den spateren Nachmittagsstunden sas Heidi wieder bei Klara und erzahlte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: “Nun muss ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!” Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfalle und bewies Heidi, dass es doch sicher dableiben musse, bis der Papa komme; dann werde man schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine frohliche Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es noch dablieb, sein Hauflein Brotchen fur die Grosmutter wieder um zwei groser wurde, denn mittags und abends lag immer ein schones Weisbrotchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es hatte das Brotchen nie essen konnen beim Gedanken, dass die Grosmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen konnte. Nach Tisch sas Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit Sebastian druben im Esszimmer ein Gesprach fuhren durfte es auch nicht, das hatte Fraulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in hohnischem Ton mit ihm und spottelte es fortwahrend an, und Heidi verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete. So sas Heidi taglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die Alm wieder grun war und wie die gelben Blumchen im Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es konne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Brotchen in das grose rote Halstuch zusammen, setzte sein Strohhutchen auf und zog aus. Aber schon unter der Haustur traf es auf ein groses Reisehindernis, auf Fraulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zuruckkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzuglich auf dem gefullten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.

    “Was ist das fur ein Aufzug? Was heist das uberhaupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du's doch wieder und dazu noch vollig aussehend wie eine Landstreicherin.”

    “Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen", entgegnete Heidi erschrocken.

    “Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?” Fraulein Rottenmeier schlug die Hande zusammen vor Aufregung. “Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wusste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, dass er das je erfahrt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? Sag!”

    “Nein", entgegnete Heidi.

    “Das weis ich wohl!”, fuhr die Dame eifrig fort. “Nichts fehlt dir, gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor lauter Wohlsein weist du nicht, was du noch alles anstellen willst!”

    Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach hervor: “Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so muss das Schneehoppli immer klagen, und die Grosmutter erwartet mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geisenpeter keinen Kase bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt obenuber fliegen wurde, so wurde er noch viel lauter krachzen, dass so viele Menschen beieinander sitzen und einander bos machen und nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist.”

    “Barmherzigkeit, das Kind ist ubergeschnappt!”, rief Fraulein Rottenmeier aus und sturzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte. “Holen Sie auf der Stelle das ungluckliche Wesen herauf!”, rief sie ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestosen.

    “Ja, ja, schon recht, danke schon", gab Sebastian zuruck und rieb sich den seinen, denn er war noch harter angefahren.

    Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Korper.

    “Na, schon wieder was angestellt?”, fragte Sebastian lustig; als er aber Heidi, das sich nicht ruhrte, recht ansah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte trostend: “Pah! Pah! Das muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschuchtern lassen! Na? Immer noch auf demselben Fleck? Wir mussen hinauf, sie hat's befohlen.”

    Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: “Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernunftiges Mamsellchen, hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwolfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Katzchen sind auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und tun wie narrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?”

    Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.

    Am Abendessen heute sagte Fraulein Rottenmeier kein Wort, aber fortwahrend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinuber, so als erwartete sie, es konnte plotzlich etwas Unerhortes unternehmen; aber Heidi sas mauschenstill am Tisch und ruhrte sich nicht, es as nicht und trank nicht; nur sein Brotchen hatte es schnell in die Tasche gesteckt.

    Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam, winkte ihn Fraulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein, und hier teilte sie ihm in groser Aufregung ihre Besorgnis mit, die Luftveranderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrucke hatten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzahlte ihm von Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besanftigte und beruhigte Fraulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung das notige Gleichgewicht einstellen konne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht uber das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande sei.

    Fraulein Rottenmeier fuhlte sich beruhigter und entlies den Herrn Kandidaten zu seiner Arbeit. Am spateren Nachmittag stieg ihr die Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstucke der Klara in den notigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen wurde. Sie teilte ihre Gedanken daruber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tucher und Hute schenken wollte, verfugte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zuruck mit Gebarden des Abscheus. “Was muss ich entdecken, Adelheid!”, rief sie aus. “Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank fur Kleider, Adelheid, im Fus dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!”—“Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus, “schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdruckten Strohhut auf dem Tisch!”

    “Nein! Nein!”, schrie Heidi auf; “ich muss den Hut haben, und die Brotchen sind fur die Grosmutter", und Heidi wollte der Tinette nachsturzen, aber es wurde von Fraulein Rottenmeier festgehalten.

    “Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehort", sagte sie bestimmt und hielt das Kind zuruck. Aber nun warf sich Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums andere in seinem Jammer auf: “Nun hat die Grosmutter keine Brotchen mehr. Sie waren fur die Grosmutter, nun sind sie alle fort und die Grosmutter bekommt keine!”, und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerspringen. Fraulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. “Heidi, Heidi, weine nur nicht so", sagte sie bittend, “hor mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Brotchen fur die Grosmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen waren ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!”

    Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hatte es gar nicht mehr zu weinen aufhoren konnen. Es musste auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten Anfalle von Schluchzen unterbrochen, fragen: “Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, fur die Grosmutter?”

    Und Klara versicherte immer wieder: “Gewiss, ganz gewiss, noch mehr, sei nur wieder froh!”

    Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es sein Brotchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die merkwurdigsten Gebarden, wenn er in Heidis Nahe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: “Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt.”

    Als Heidi spater in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdrucktes Strohhutchen unter der Decke versteckt. Mit Entzucken zog es den alten Hut hervor, zerdruckte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentuchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Hutchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hutchen oben darauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: “Das will ich schon forttun.” Darauf hatte er es in aller Freude fur Heidi gerettet, was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.

    Im Hause Sesemann spukt's

    Seit einigen Tagen wanderte Fraulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit der Dammerung von einem Zimmer ins andere oder uber den langen Korridor ging, schaute sie ofters um sich, gegen die Ecken hin und auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es konnte jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Raumen herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich aufgerusteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Raumen etwas zu besorgen, wo der grose geheimnisvolle Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten Ratsherren mit den grosen, weisen Kragen so ernsthaft und unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmasig die Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas von dort herauf-oder von oben herunterzutragen ware. Tinette ihrerseits machte es punktlich ebenso; hatte sie oben oder unten irgendein Geschaft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es mochte etwas herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen konnte. Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in die abgelegenen Raume geschickt, so holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen konnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass jedes gut hatte allein gehen konnen; aber es war so, als denke der Herbeigerufene immer bei sich, er konne den anderen auch bald fur denselben Dienst notig haben. Wahrend sich solches oben zutrug, stand unten die langjahrige Kochin tiefsinnig bei ihren Topfen und schuttelte den Kopf und seufzte: “Dass ich das noch erleben musste!”

    Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam, stand die Haustur weit offen; aber weit und breit war niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Raume des Hauses durchsucht, um zu sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken konnen und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tur doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der holzerne Balken vorgeschoben—es half nichts: Am Morgen stand die Tur weit offen; und so fruh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte—die Tur stand offen, wenn auch ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Turen an allen anderen Hausern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den grosen Saal sties, zuzubringen und zu erwarten, was geschehe. Fraulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen des Herrn Sesemann hervor und ubergab dem Sebastian eine grose Liqueurflasche, damit Starkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen konne, wo sie notig sei.

    Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen gleich an, sich Starkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprachig und dann ziemlich schlafrig machte, worauf sie beide sich an die Sesselrucken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr druben zwolf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an; der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief, legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mauschenstill, auch von der Strase war kein Laut mehr zu horen. Sebastian entschlief nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der grosen Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedampfter Stimme an und ruttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief: “Nun, Sebastian, wir mussen doch einmal hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht furchten. Nur mir nach.”

    Johann machte die leicht angelehnte Zimmertur weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustur ein scharfer Luftzug her und loschte das Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieser sturzte zuruck, warf den hinter ihm stehenden Sebastian beinah rucklings ins Zimmer hinein, riss ihn dann mit, schlug die Tur zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlussel um, solang er nur umging. Dann riss er seine Streichholzer hervor und zundete sein Licht wieder an. Sebastian wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweis und zitterte wie Espenlaub. “Was ist's denn? Was war denn drausen?”, fragte der Sebastian teilnehmend.

    “Sperrangelweit offen die Tur", keuchte Johann, “und auf der Treppe eine weise Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf— husch und verschwunden.”

    Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rucken hinauf. Jetzt setzten sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis dass der neue Morgen da war und es auf der Strase anfing, lebendig zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen stehende Haustur zu und stiegen dann hinauf, um Fraulein Rottenmeier Bericht zu erstatten uber das Erlebte. Die Dame war auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten hatte; er moge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hause zuruckkehren, denn da geschahen unerhorte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass fortgesetzt die Tur jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnachtlich offen stehender Hauspforte und dass man uberhaupt nicht absehen konne, was fur dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen konne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm unmoglich, so plotzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe auch, sie sei vorubergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben, so moge Fraulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss wurde seine Mutter in kurzester Zeit mit den Gespenstern fertig, und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein Haus zu beunruhigen. Fraulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst. Sie schrieb unverzuglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite her tonte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt einige ganz anzugliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen, weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Ubrigens sei niemals ein Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines darin herumfahre, so konne es nur ein lebendiges sein, mit dem die Rottenmeier sich sollte verstandigen konnen; wo nicht, so solle sie die Nachtwachter zu Hilfe rufen.

    Aber Fraulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung gesagt, denn sie befurchtete, die Kinder wurden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte sehr unbequeme Folgen fur sie haben. Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer hinuber, wo die beiden zusammensasen, und erzahlte mit gedampfter Stimme von den nachtlichen Erscheinungen eines Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa musse nach Hause kommen und Fraulein Rottenmeier musse zum Schlafen in ihr Zimmer hinuberziehen, und Heidi durfe auch nicht mehr allein sein, sonst konne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in (einem) Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und Tinette musste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann mussten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie gleich schreien und das Gespenst erschrecken konnten, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und Fraulein Rottenmeier hatte nun die groste Muhe, sie etwas zu beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch furchten sollte, so musste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi furchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen das Kind noch gar nie etwas gehort hatte, und es erklarte gleich, es furchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fraulein Rottenmeier an ihren Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen Vorgange im Hause, die allnachtlich sich wiederholten, hatten die zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschuttert, dass die schlimmsten Folgen zu befurchten seien; man habe Beispiele von plotzlich eintretenden epileptischen Zufallen oder Veitstanz in solchen Verhaltnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.

    Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tur und schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften Stucke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb geoffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es noch einmal so nachdrucklich, dass jeder unwillkurlich eine Menschenhand hinter dem tuchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte die Hand erkannt, sturzte durchs Zimmer, kopfuber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf die Fuse und riss die Haustur auf. Herr Sesemann gruste kurz und stieg ohne weiteres nach dem Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter und vollig unverandert sah, glattete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst horte, sie sei so wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.

    “Und wie fuhrt sich das Gespenst weiter auf, Fraulein Rottenmeier?”, fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln.

    “Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, “es ist kein Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf Furchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden sein.”

    “So, davon weis ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, “muss aber bitten, meine vollig ehrenwerten Ahnen nicht verdachtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will allein mit ihm reden.”

    Herr Sesemann ging hinuber und Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fraulein Rottenmeier sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine Gedanken.

    “Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, “und sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt, so um Fraulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?”

    “Nein, meiner Treu, das muss der gnadige Herr nicht glauben; es ist mir selbst nicht ganz gemutlich bei der Sache", entgegnete Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.

    “Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schame Er sich, Sebastian, ein junger, kraftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzuglich zu meinem alten Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er mochte unfehlbar heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu konsultieren. Er musse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden, Sebastian?”

    “Jawohl, jawohl! Der gnadige Herr kann sicher sein, dass ich's gut mache.” Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu seinem Tochterchen zuruck, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu benehmen, die er noch heute ins notige Licht stellen wollte.

    Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fraulein Rottenmeier sich zuruckgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas angstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrusung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: “Nun, nun, fur einen, bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter.”

    “Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zuruck; “derjenige, fur den du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst abgefangen haben.”

    “Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden muss?”

    “Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei mir spukt's!”

    Der Doktor lachte laut auf.

    “Schone Teilnahme das, Doktor!”, fuhr Herr Sesemann fort; “schade, dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht geniesen kann. Sie ist fest uberzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten abbust.”

    “Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?”, fragte der Doktor noch immer sehr erheitert.

    Herr Sesemann erzahlte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnachtlich die Haustur geoffnet werde, nach der Angabe der samtlichen Hausbewohner, und fugte hinzu, um fur alle Falle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr unerwunschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des Hausherrn zu erschrecken—dann konnte ein kleiner Schrecken, wie ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein—; oder auch es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu sein, dass niemand sich herauswage—in diesem Falle konnte eine gute Waffe auch nicht schaden.

    Wahrend dieser Erklarungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen schonen Weines, denn eine kleine Starkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwunscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten.

    Nun wurde die Tur ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Korridor hinausfliesen, es konnte das Gespenst verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemutlich in ihre Lehnstuhle und fingen an, sich allerlei zu erzahlen, nahmen auch hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwolf Uhr, eh sie sich's versahen.

    “Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht", sagte der Doktor jetzt.

    “Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.

    Das Gesprach wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es vollig still, auch auf den Strasen war aller Larm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.

    “Pst, Sesemann, horst du nichts?”

    Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich horten sie, wie der Balken zuruckgeschoben, dann der Schlussel zweimal im Schloss umgedreht, jetzt die Tur geoffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der Hand nach seinem Revolver.

    “Du furchtest dich doch nicht?”, sagte der Doktor und stand auf.

    “Behutsam ist besser", flusterte Herr Sesemann, erfasste mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermasen mit Leuchter und Schiesgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.

    Durch die weit geoffnete Tur floss ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weise Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.

    “Wer da?”, donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei. Mit blosen Fusen im weisen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blattlein im Winde von oben bis unten. Die Herren schauten einander in grosem Erstaunen an.

    “Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine Wassertragerin", sagte der Doktor.

    “Kind, was soll das heisen?”, fragte nun Herr Sesemann. “Was wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?”

    Schneeweis vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos: “Ich weis nicht.”

    Jetzt trat der Doktor vor: “Sesemann, der Fall gehort in mein Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehort.”

    Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz vaterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.

    “Nicht furchten, nicht furchten", sagte er freundlich im Hinaufsteigen, “nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes dabei, nur getrost sein.”

    In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfaltig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begutigend: “So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?”

    “Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; “ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.”

    “So, so, und hast du etwa getraumt in der Nacht, weist du, so, dass du deutlich etwas sahst und hortest?”

    “Ja, jede Nacht traumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich sei beim Grosvater, und drausen hor ich's in den Tannen sausen und denke: Jetzt glitzern so schon die Sterne am Himmel, und ich laufe geschwind und mache die Tur auf an der Hutte und da ist's so schon! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.” Heidi fing schon an zu kampfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufstieg.

    “Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rucken?”

    “O nein, nur hier druckt es so wie ein groser Stein immerfort.”

    “Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zuruckgeben?”

    “Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte.”

    “So, so, und weinst du denn so recht heraus?”

    “O nein, das darf man nicht, Fraulein Rottenmeier hat es verboten.”

    “Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig! Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?”

    “O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher das Gegenteil.

    “Hm, und wo hast du mit deinem Grosvater gelebt?”

    “Immer auf der Alm.”

    “So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?”

    “O nein, da ist's so schon, so schon!” Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen uberwaltigten die Krafte des Kindes; gewaltsam sturzten ihm die Tranen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.

    Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: “So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts schaden, und dann schlafen, ganz frohlich einschlafen; morgen wird alles gut.” Dann verlies er das Zimmer.

    Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, lies er sich dem harrenden Freunde gegenuber in den Lehnstuhl nieder und erklarte dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: “Sesemann, dein kleiner Schutzling ist erstens mondsuchtig; vollig unbewusst hat er dir allnachtlich als Gespenst die Haustur aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch vollig werden wurde; also schnelle Hilfe! Fur das erste Ubel und die in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, namlich, dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zuruckversetzest; fur das zweite gibt's ebenfalls nur (eine) Medizin, namlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept.”

    Herr Sesemann war aufgestanden. In groster Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: “Mondsuchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand sieht zu und weis etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und abgemagert seinem Grosvater zuruck? Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!”

    “Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, “bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zahe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kraftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewohnt ist, so kann es wieder vollig gesunden; wenn nicht—du willst nicht, dass das Kind dem Grosvater unheilbar oder gar nicht mehr zuruckkomme?”

    Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: “Ja, wenn du so redest, Doktor, dann ist nur (ein) Weg, dann muss sofort gehandelt werden.” Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen, denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustur, die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon der helle Morgenschimmer herein.

    Am Sommerabend die Alm hinan

    Herr Sesemann stieg in groser Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er so ungewohnlich kraftig an die Tur, dass die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie horte die Stimme des Hausherrn drausen: “Bitte sich zu beeilen und im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet werden.”

    Fraulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb funf des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwarts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.

    Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je fur die verschiedenen Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzufuhren. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fraulein Rottenmeier war unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles sas, wie es musste, nur die Haube sas verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Rucken. Herr Sesemann schrieb den ratselhaften Anblick dem fruhen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geschaftsverhandlungen. Er erklarte der Dame, sie habe ohne Zogern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die samtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken—so nannte Herr Sesemann gewohnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war— , dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es musse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.

    Fraulein Rottenmeier blieb vor Uberraschung wie in den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehort hatte; stattdessen diese vollig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Auftrage. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewaltigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.

    Aber Herr Sesemann hatte keine Erklarungen im Sinn; er lies die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewohnliche Bewegung im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzahlte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine nachtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen wurde, was dann mit den hochsten Gefahren verbunden ware. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung konne er nicht auf sich nehmen, und Klara musse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein konne.

    Klara war sehr schmerzlich uberrascht von der Mitteilung und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nachsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernunftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer fur Heidi in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken konne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schone Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in groser Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewohnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas Auserordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und erklarte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wunsche, sie mochte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die Base sah sehr enttauscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Ohi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit groser Beredsamkeit, heute ware es ihr leider vollig unmoglich, die Reise anzutreten, und morgen konnte sie noch weniger daran denken, und die Tage darauf ware es am allerunmoglichsten, um der darauf folgenden Geschafte willen, und nachher konnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entlies die Base ohne weiteres. Nun lies er den Sebastian vortreten und erklarte ihm, er habe sich unverzuglich zur Reise zu rusten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann konne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Grosvater werde diesem alles erklaren.

    “Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann, “und dass Er mir das punktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden fur das Kind; fur sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollstandig, dass nur grose Gewalt sie aufzubringen vermochte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schliest von ausen die Tur ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und konnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustur aufmachen wollte; versteht Er das?”

    “Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?”, sties Sebastian jetzt in groster Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein groses Licht aufgegangen uber die Geistererscheinung.

    “Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfus, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine lacherliche Mannschaft.” Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Ohi.

    Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und wiederholte jetzt zu ofteren Malen in seinem Innern: “Hatt ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube hineinreisen lassen, sondern ware dem weisen Figurchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft tun wurde!”, denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit.

    Unterdessen stand Heidi vollig ahnungslos in seinem Sonntagsrockchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgeruttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen gefordert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.

    Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das Fruhstuck bereitstand, und rief: “Wo ist das Kind?”

    Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm 'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: “Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?”

    Heidi blickte verwundert zu ihm auf.

    “Du weist am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. “Nun, heut gehst du heim, jetzt gleich.”

    “Heim?”, wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweis, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt.

    “Nun, willst du etwa nichts wissen davon?”, fragte Herr Sesemann lachelnd.

    “O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.

    “Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und Heidi winkte, dasselbe zu tun. “Und nun tuchtig fruhstucken und hernach in den Wagen und fort.”

    Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, dass es gar nicht wusste, ob es wache oder traume und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustur stehen werde.

    “Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann Fraulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; “das Kind kann nicht essen, begreiflicherweise.—Geh hinuber zu Klara, bis der Wagen vorfahrt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.

    Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinuber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.

    “Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. “Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?”

    Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schurzen, Tucher und Nahgerat, “und sieh hier, Heidi", und Klara hob triumphierend einen Korb in die Hohe. Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwolf schone, weise, runde Brotchen, alle fur die Grosmutter. Die Kinder vergasen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: “Der Wagen ist bereit!”—da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schones Buch von der Grosmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brotchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig—auch das alte rote Tuch lag noch da, Fraulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein schones Hutchen auf und verlies sein Zimmer.

    Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fraulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rote Bundelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.

    “Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, “so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du uberhaupt nicht mitzuschleppen. Nun lebe wohl.”

    Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bundelchen nicht wieder aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen grosten Schatz nehmen.

    “Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, “das Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge Katzen oder Schildkroten mit fortschleppen, so wollen wir uns daruber nicht aufregen, Fraulein Rottenmeier.”

    Heidi hob eilig sein Bundelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten, sie wurden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wunschte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schon fur alle Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es: “Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grusen und ihm auch vielmals danken.” Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern Abend gesagt hatte: “Und morgen wird alles gut.” Nun war es so gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.

    Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: “Gluckliche Reise!”, und der Wagen rollte davon.

    Bald nachher sas Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen Korb auf dem Schose fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Handen lassen, seine kostbaren Brotchen fur die Grosmutter waren ja darin, die musste es sorgfaltig huten und von Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen daruber. Heidi sas mauschenstille wahrend mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Grosvater, auf die Alm, zur Grosmutter, zum Geisenpeter, und nun kam ihm alles vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue Gedanken auf, und auf einmal sagte es angstlich: “Sebastian, ist auch sicher die Grosmutter auf der Alm nicht gestorben?”

    “Nein, nein", beruhigte dieser, “wollen's nicht hoffen, wird schon noch am Leben sein.”

    Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zuruck; nur hier und da guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brotchen der Grosmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach langerer Zeit sagte es wieder: “Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen konnte, dass die Grosmutter noch am Leben ist.”

    “Jawohl! Jawohl!”, entgegnete der Begleiter halb schlafend; “Wird schon noch leben, wusste auch gar nicht, warum nicht.”

    Nach einiger Zeit druckte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem fruhen Aufstehen war es so schlafbedurftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es tuchtig am Arm schuttelte und ihm zurief: “Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen, in Basel angekommen!”

    Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi sas wieder mit seinem Korb auf dem Schos, den es um keinen Preis dem Sebastian ubergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertonte laut der Ruf: “Maienfeld!” Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch uberrascht worden war. Jetzt standen sie drausen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal hinein. Sebastian sah ihm wehmutig nach, denn er ware viel lieber so sicher und ohne Muhe weitergereist, als dass er nun eine Fuspartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig um sich, wen er etwa beraten konnte uber den sichersten Weg nach dem 'Dorfli'. Unweit des kleinen Stationsgebaudes stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rosslein davor; auf diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar grose Sacke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dorfli vor.

    “Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.

    Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen konne, ohne in die Abgrunde zu sturzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dorfli befordern konnte. Der Mann schaute nach dem Koffer hin und mas ihn ein wenig mit den Augen; dann erklarte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dorfli fahre, und so gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden uberein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Dorfli aus konne das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt werden.

    “Ich kann allein gehen, ich weis schon den Weg vom Dorfli auf die Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehort hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und uberreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Grosvater und erklarte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die musse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die Brotchen, und darauf musse genau Acht gegeben werden, dass sie nicht verloren gehe, denn daruber wurde Herr Sesemann ganz furchterlich bose und sein Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.

    “Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Fuhrer war noch in der Nahe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wusste, er hatte eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der Fuhrer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, wahrend Sebastian, froh uber seine Befreiung von der gefurchteten Bergreise, sich am Stationshauschen niedersetzte, um den zuruckgehenden Bahnzug abzuwarten.

    Der Mann auf dem Wagen war der Backer vom Dorfli, welcher seine Mehlsacke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie jedermann im Dorfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Ohi gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder heimkommen und wahrend der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gesprach an: “Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Ohi war, beim Grosvater?”

    “Ja.”

    “So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit her heimkommst?”

    “Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat.”

    “Warum laufst du denn heim?”

    “Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst war ich nicht heimgelaufen.”

    “Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir's erlaubt hat, heimzugehen?”

    “Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Grosvater auf die Alm als sonst alles auf der Welt.”

    “Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der Backer; “nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst, “es kann wissen, wie's ist.”

    Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Baume am Wege, und druben standen die hohen Zacken des Falknis-Berges und schauten zu ihm heruber, so als grusten sie es wie gute alte Freunde; und Heidi gruste wieder, und mit jedem Schritt vorwarts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte, es musse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kraften laufen, bis es ganz oben ware. Aber es blieb doch still sitzen und ruhrte sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dorfli ein, eben schlug die Glocke funf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Backers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und wohin und wem beide zugehorten. Als der Backer Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: “Danke, der Grosvater holt dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drangte sich mit einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm unwillkurlich Platz machte und es laufen lies, und einer sagte zum anderen: “Du siehst ja, wie es sich furchtet, es hat auch alle Ursache.” Und dann fingen sie noch an, sich zu erzahlen, wie der Alm-Ohi seit einem Jahr noch viel arger geworden sei als vorher und mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wusste wohin, so liefe es nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Backer in das Gesprach ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle, und erzahlte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und uberhaupt konne er sicher sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es selbst begehrt habe, zum Grosvater zuruckzugehen. Diese Nachricht brachte eine grose Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dorfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus allem Wohlleben zum Grosvater zuruckbegehrt habe.

    Heidi lief vom Dorfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit musste es aber plotzlich stille stehen, denn es hatte ganz den Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer steiler, je hoher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch einen Gedanken: “Wird auch die Grosmutter noch auf ihrem Platzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben unterdessen?” Jetzt erblickte Heidi die Hutte oben in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt war es oben—vor Zittern konnte es fast die Tur nicht aufmachen— doch jetzt—es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da, vollig auser Atem, und brachte keinen Ton hervor.

    “Ach du mein Gott", tonte es aus der Ecke hervor, “so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben konnte! Wer ist hereingekommen?”

    “Da bin ich ja, Grosmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und sturzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Grosmutter heran, fasste ihren Arm und ihre Hande und legte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Grosmutter so uberrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr sie mit der Hand streichelnd uber Heidis Kraushaare hin, und nun sagte sie ein Mal uber das andere: “Ja, ja, das sind seine Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich das noch erleben lasst!” Und aus den blinden Augen fielen ein paar grose Freudentranen auf Heidis Hand nieder. “Bist du's auch, Heidi, bist du auch sicher wieder da?”

    “Ja, ja, sicher, Grosmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht, “weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein hartes Brot mehr essen, siehst du, Grosmutter, siehst du?”

    Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brotchen nach dem andern aus, bis es alle zwolf auf dem Schos der Grosmutter aufgehauft hatte.

    “Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn fur einen Segen mit!”, rief die Grosmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brotchen und immer noch eines folgte. “Aber der groste Segen bist du mir doch selber, Kind!” Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich uber seine heisen Wangen und sagte wieder: “Sag noch ein Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich horen kann.”

    Heidi erzahlte nun der Grosmutter, welche grose Angst es habe ausstehen mussen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe nun gar nie die weisen Brotchen bekommen, und es konne nie, nie mehr zu ihr gehen.

    Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: “Sicher, es ist das Heidi, wie kann auch das sein!”

    Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar nicht genug verwundern daruber, wie Heidi aussehe, und ging um das Kind herum und sagte: “Grosmutter, wenn du doch nur sehen konntest, was fur ein schones Rocklein das Heidi hat und wie es aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhutlein auf dem Tisch gehort dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin aussiehst.”

    “Nein, ich will nicht", erklarte Heidi, “du kannst es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes.” Damit machte Heidi sein rotes Bundelchen auf und nahm sein altes Hutchen daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kummerte das Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Grosvater beim Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi sein Hutchen so sorgfaltig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Grosvater. Aber die Brigitte sagte, so einfaltig musse es nicht sein, es sei ja ein prachtiges Hutchen, das nehme sie nicht; man konnte es ja etwa dem Tochterlein vom Lehrer im Dorfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hutlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Hutchen leise hinter die Grosmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schones Rocklein aus, und uber das Unterrockchen, in dem es nun mit blosen Armen dastand, band es das rote Halstuch, und nun fasste es die Hand der Grosmutter und sagte: “Jetzt muss ich heim zum Grosvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute Nacht, Grosmutter.”

    “Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die Grosmutter und druckte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht loslassen.

    “Warum hast du denn dein schones Rocklein ausgezogen?”, fragte die Brigitte.

    “Weil ich lieber so zum Grosvater will, sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin.”

    Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tur hinaus, und hier sagte sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: “Den Rock hattest du schon anbehalten konnen, er hatte dich doch gekannt; aber sonst musst du dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Ohi sei jetzt immer bos und rede kein Wort mehr.”

    Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grune Alm, und jetzt war auch druben das grose Schneefeld an der Schesaplana sichtbar geworden und strahlte heruber. Heidi musste alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rucken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen Fusen auf das Gras, es kehrte sich um, da —so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie so im Traum gesehen—die Felshorner am Falknis flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld gluhte und rosenrote Wolken zogen daruber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tranen die Wangen herunter, und es musste die Hande falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schon sei und noch viel schoner, als es gewusst hatte, und dass alles wieder ihm gehore; und Heidi war so glucklich und so reich in all der grosen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum vergluhte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die Tannenwipfel uber dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hutte, und auf der Bank an der Hutte sas der Grosvater und rauchte sein Pfeifchen, und uber die Hutte her wogten die alten Tannenwipfel und raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Ohi nur recht sehen konnte, was da herankam, sturzte das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es nichts sagen, als nur immer ausrufen: “Grosvater! Grosvater! Grosvater!”

    Der Grosvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der Hand daruber fahren. Dann loste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. “So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; “wie ist das? Besonders hoffartig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?”

    “O nein, Grosvater", fing Heidi nun mit Eifer an, “das musst du nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Grosmama und der Herr Sesemann; aber siehst du, Grosvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein konnte, und ich habe manchmal gemeint, ich musse ganz ersticken, so hat es mich gewurgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz fruh—aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran—aber es steht vielleicht alles in dem Brief”—damit sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Grosvaters.

    “Das gehort dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

    “Meinst, du konntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?”, fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hutte einzutreten. “Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider fur ein paar Jahre.”

    “Ich brauch es gewiss nicht, Grosvater", versicherte Heidi; “ein Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, dass ich gewiss nie mehr andere brauche.”

    “Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal brauchen konnen.”

    Heidi gehorchte und hupfte nun dem Grosvater nach in die Hutte hinein, wo es vor Freude uber das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf—aber da stand es plotzlich still und rief in Betroffenheit von oben herunter: “Oh, Grosvater, ich habe kein Bett mehr!”

    “Kommt schon wieder", tonte es von unten herauf, “wusste ja nicht, dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!”

    Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten Platze, und nun erfasste es sein Schusselchen und trank mit einer Begierde, als ware etwas so Kostliches noch nie in seinen Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schusselchen hinstellte, sagte es: “So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts auf der Welt, Grosvater.”

    Jetzt ertonte drausen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss Heidi zur Tur hinaus. Da kam die ganze Schar der Geisen hupfend, springend, Satze machend von der Hohe herunter, mittendrin der Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle vollig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: “Guten Abend, Peter!”, und sturzte mitten in die Geisen hinein: “Schwanli! Barli! Kennt ihr mich noch?”, und die Geislein mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Kopfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und drangten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf und uber zwei Geisen weg, um gleich in die Nahe zu kommen, und sogar das schuchterne Schneehoppli drangte mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den grosen Turk auf die Seite, der nun ganz verwundert uber die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.

    Heidi war auser sich vor Freude, alle die alten Gefahrten wieder zu haben; es umarmte das kleine, zartliche Schneehoppli wieder und wieder und streichelte den sturmischen Distelfink und wurde vor groser Liebe und Zutraulichkeit der Geisen hin und her gedrangt und geschoben, bis es nun ganz in Peters Nahe kam, der noch immer auf demselben Platze stand.

    “Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!”, rief ihm Heidi jetzt zu.

    “Bist denn wieder da?”, brachte er nun endlich in seinem Erstaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer getan hatte bei der Heimkehr am Abend: “Kommst morgen wieder mit?”

    “Nein, morgen nicht, aber ubermorgen vielleicht, denn morgen muss ich zur Grosmutter.”

    “Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnugen, dann schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch nie mit seinen Geisen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwanlis und den andern um Barlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei Geisen in den Stall eintreten und die Tur zumachen, sonst ware der Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hutte zuruckkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, prachtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und daruber hatte der Grosvater ganz sorgfaltig die sauberen Leintucher gebreitet. Heidi legte sich mit groser Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Wahrend der Nacht verlies der Grosvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn sein groses, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendgluhen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehort, es war wieder daheim auf der Alm.